Das Evangelium nach Matthäus
Literarisches Sammelwerk der Worte Jesu
von Mag. Klaus Einspieler
Der Grund für die Abfassung des Matthäusevangeliums dürfte wohl das Markusevangelium gewesen sein. Die Kenntnis weiterer Traditionen – der Logienquelle und dem so genannten Sondergut – dürfte Matthäus zur Abfassung seiner Schrift bewogen haben. Zudem traten neue Fragen auf: das Verhältnis der Jesusbewegung zum Judentum, die Heidenmission, der nachlassende Eifer in der frühen Kirche, Spannungen in der Gemeinde usw. Matthäus grenzt sich scharf vom Judentum ab und betont die Überlegenheit des eigenen Tuns. Dabei nimmt er in Kauf, dass der Gegner, nämlich das Judentum, bewusst überzeichnet wird. Der Missionsbefehl des Auferstandenen am Ende des Evangeliums dokumentiert eindrucksvoll die Hinwendung zur Heidenwelt.
Die Bedeutung des Alten Testaments für Matthäus wird bereits in den Kindheitserzählungen offenkundig: Stammbaum Jesu, Jesus als endzeitlicher Prophet in der Gefolgschaft des Mose (Dtn 18,15-18), das Interesse am Thema Gesetz etc. Der Verfasser war also mit großer Sicherheit ein Judenchrist, seine Gemeinde hat aber bereits Mission unter den Heiden betrieben. Die Frage der Bedeutung des Gesetzes war zwar in der Gemeinde umstritten, das jüdisch-judenchristliche Milieu ist jedoch in allen Schichten des Evangeliums spürbar.
Zum Verfasser des Matthäusevangeliums:
Ein Augenzeuge Jesu kommt als Autor nicht in Frage. Der Apostel Matthäus hätte wohl kaum seine eigene Berufung nach der Vorlage von Markus beschrieben. Andererseits fällt natürlich das Interesse auf, den Zöllner Levi (Mk 2,14) mit Matthäus zu identifizieren (Mt 9,9), was nur in diesem Evangelium geschieht. Der Apostel dürfte also in einem besonderen Naheverhältnis zu jener Gemeinde gestanden sein, in der das Evangelium entstanden ist.
Abfassungszeit und –ort:
Die Entstehungszeit kann etwa um 80-90 angesetzt werden.
Aufgrund der geographischen Nähe zu Palästina und der großen Zahl judenchristlicher Gemeinden wird häufig der syrische Raum, unter Umständen sogar die Hauptstadt Antiochien, ins Treffen geführt (Ignatius von Antiochien hat das Evangelium bereits gekannt und benutzt).
Theologie:
Die zentrale Frage gegenüber dem Judentum war die Bedeutung Jesu von Nazaret. Dies ist auch im Evangelium nach Matthäus deutlich spürbar. Der Stammbaum Jesu zu Beginn des Evangeliums betont die Kontinuität zum Alten Testament. Das Schlusswort hingegen eröffnet den Zugang zu allen Völkern. In diesem Bogen ist das Evangelium angesiedelt. Es beschreibt die Sendung Jesu zu den Söhnen und Töchtern Israels, seine Ablehnung, die im Kreuzestod und der Missachtung der Auferstehungsbotschaft mündet und schließlich die Öffnung zu allen Völkern. Sie wird schon während des Wirkens Jesu schrittweise vorbereitet. Somit wird die Jesusgeschichte zur Geschichte des Volkes Gottes.
Jesus gilt als Erfüller der Prophetie (Schema Verheißung – Erfüllung). Die so genannten „Reflexionszitate“ aus dem Alten Testament wollen deutlich machen, dass die Ereignisse im Leben Jesu bereits in der Heiligen Schrift vorgebildet sind. Dabei dient Jesaja als Heilsprophet, Jeremia hingegen als Unheilsprophet.
Im Mittelpunkt des Evangeliums steht das Bekenntnis des Petrus, Jesus sei der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16,16). Es beruht auf göttlicher Offenbarung und ist das gültige Glaubensbekenntnis der Kirche. Diese Bibelstelle hatte starken Einfluss auf die Ausprägung der Lehre vom Primat des Papstes.
Der Evangelist wird nicht müde zu betonen, dass Jesus den Willen Gottes tut: Taufe, Getsemani, Kreuz. So wird er zum Vorbild für die Kirche. Zudem ist Jesus der von Gott gesandte Lehrer, der den Willen Gottes mit Vollmacht auslegt. Jesus ist nicht gekommen, um das Gesetz aufzuheben. Er bringt die von Gott autorisierte endzeitliche Interpretation der Weisung Gottes (Tora). Ihre Geltung ist in der Person Jesu begründet. Diese starke Betonung des Willens Gottes lässt deutlich den jüdischen Hintergrund des Evangeliums erahnen. Das Ringen der Gemeinde um die Bedeutung des Gesetzes ist noch deutlich spürbar. Matthäus hält jedoch nicht sklavisch am Wortlaut der Gebote Jesu fest, sondern passt sie dem Umfeld an (Beispiel Ehescheidung). Maßstab für dieses Vorgehen sind das Liebesgebot und die Forderung nach Barmherzigkeit (Mt 9,13).
Matthäus spricht als einziger Evangelist von einer Kirchengründung durch den irdischen Jesus (Mt 16,18-19). Dieser richtet sich jedoch zunächst nur an Israel. Erst vom Auferstandenen ergeht der Missionsbefehl unter allen Völkern. Die Ablehnung des Messias hat den Wandel ausgelöst. Dies wird in den Gleichnissen von den bösen Winzern (Mt 21,33-46) und vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1-14) drastisch vor Augen geführt. Auch der Ruf des Volkes bei Pilatus „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25) fügt sich in diesen Kontext ein. Diese sakrale Formel bedeutet übersetzt „Wir sind bereit, die Konsequenzen seines Todes zu tragen“. Die Fehlinterpretation dieses Satzes hat in der Geschichte bedauernswerte Folgen gehabt. Eine Kollektivschuld des Judentums am Tod Jesu ist damit keineswegs angedeutet. Die Ausrichtung auf das Heidentum wird bereits vor dem Tod Jesu vorbereitet: Sterndeuter huldigen dem neugeborenen Jesus, im Gefolge Jesu befinden sich heidnische Frauen, der Glaube des heidnischen Hauptmanns wird von Jesus als Vorbild für ganz Israel dargestellt.
Die Kirche soll den Willen Gottes tun und hat die Vollmacht, ihn zu deuten. Wie Israel, so steht nun auch die Kirche unter der Forderung des Fruchtbringens. Somit steht auch die Kirche unter dem Gericht. Sie ist eine Weggemeinschaft zum ewigen Heil. Dieses Heil gewinnt der Mensch durch das Tun des Willens Gottes. Gerechtigkeit bedeutet für Matthäus das von Gott geforderte rechte Tun.