Das Evangelium nach Lukas
die gesamte Heilsgeschichte ist Ausdruck des göttlichen Willens
von Mag. Klaus Einspieler
Das Evangelium nach Lukas hat folgenden Aufbau:
Lk 1,1-4 Vorwort
Lk 1,5-2,52 Vorgeschichte Jesu
Lk 3,1-4,13 Vorbereitung für das öffentliche Wirken Jesu
Lk 4,14-9,50 Jesu Wirken in Galiläa
Lk 9,51-19,27 Jesus auf dem Weg nach Jerusalem
Lk 19,28-24,43 Jesus in Jerusalem
Im Gegensatz zu Matthäus und Markus geben Lukas und Johannes an, warum sie ein Evangelium verfassen. Lukas zielt auf das Glaubenszeugnis und die historische Zuverlässigkeit der Unterweisung ab. Letzteres wurde wahrscheinlich von der hellenistischen Welt gefordert. Beim genaueren Hinsehen fällt freilich auf, dass Lukas nicht genauer vorging, als die anderen Evangelisten und ebenso seine schriftstellerische Freiheit nutzte (etwa bei der Darstellung der Ablehnung Jesu in seiner Heimat, Lk 4,16-30).
Zum Verfasser des Lukasevangeliums:
Die Sprache und der Stil des Evangeliums weisen auf einen gebildeten Hellenisten hin. Zu seinen Charakteristika gehören aber auch eine gute Kenntnis des Alten Testaments in seiner griechischen Übersetzung sowie die Vertrautheit mit jüdischen Bräuchen und judenchristlichen Traditionen. Der Verfasser war also vermutlich ein Heidenchrist der zweiten oder dritten Generation mit guten Kontakten zum Diasporajudentum.
Die alte Kirche schrieb das Evangelium später Lukas zu. Irenäus von Lyon (+ um 200) bezeichnet ihn in Anlehnung an die Paulusbriefe als Begleiter des Völkerapostels. Gemäß Kol 4,14 soll er Arzt gewesen sein.
Diese und ähnliche Fragen lassen sich leichter klären, wenn man die Apostelgeschichte hinzuzieht, die vom selben Verfasser stammt wie das Lukasevangelium. Hier fällt auf, dass es zwischen Paulus und Lukas deutliche Unterschiede in der Darstellung der Ereignisse gibt. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass der Verfasser des dritten Evangeliums der von Irenäus genannte Paulusschüler gewesen ist. Die Antwort auf die Frage nach dem Verfasser muss sich also mit vagen Angaben begnügen.
Abfassungszeit und –ort:
Die Entstehungszeit kann etwa um 80-100 angesetzt werden.
In der Literatur wird eine Fülle von Orten genannt, wo das dritte Evangelium entstanden sein könnte. Aufgrund der auffallend guten Ortsbeschreibung von Makedonien in der Apostelgeschichte wurde Philippi ins Treffen geführt. Der letzte Beweis fehlt jedoch. Jedenfalls war die Gemeinde des Lukas heidenchristlich dominiert. Die Darstellung der Paulusmission in der Apostelgeschichte lässt zudem vermuten, dass auch kleinere judenchristliche Gruppen zur Gemeinde des Lukas gehört haben. Auffallend ist die Bedeutung der Frauen im lukanischen Doppelwerk.
Die Vorlagen für das Lukasevangelium:
Lukas hat Vorlagen benutzt. Darauf verweist er bereits zu Beginn des Evangeliums. Ein Vergleich mit Markus zeigt, dass er fast die Hälfte des vorliegenden Materials nicht übernommen hat. Ähnliches dürfte wohl für die Logienquelle und das Sondergut gelten, das Lukas ausreichend zur Verfügung gestanden ist. Im Gegensatz zu Matthäus hat Lukas das Material nicht thematisch geordnet, sondern in Blöcken überliefert. Das macht folgende Darstellung der Übernahme des Markusevangeliums (Mk) und des Sonderguts (S) deutlich, wobei die Logienquelle nicht berücksichtigt wird:
S Lk 1,1-2,52
Mk Lk 3,1-6,19
S Lk 6,20-8,3
Mk Lk 8,4-9,50
S Lk 9,51-18,14
Mk Lk 18,15-24,11
S Lk 24,12-53
Bei der Darstellung der Passion hat Lukas besonders deutlich in die markinische Vorlage eingegriffen und sie durch Umstellungen und Einschaltungen neu geformt.
Theologie:
Das Evangelium nach Lukas und die Apostelgeschichte sind vom Wegmotiv geprägt. Jerusalem erscheint als Mittelpunkt der Heilsgeschichte. Der Weg Jesu führt nach Jerusalem, der Weg der Kirche von Jerusalem nach Judäa „und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). Für Lukas ist die gesamte Heilsgeschichte Ausdruck des göttlichen Willens. Er betont mehrmals, dass alles so geschehen musste, weil dies dem Heilsplan Gottes entsprach (siehe zum Beispiel Lk 24,26).
Die Perspektive der Predigt an die Juden wird im Gegensatz zu Matthäus (Auftrag des Auferstandenen in Mt 28,18-20) bis zum Ende der Apostelgeschichte nicht aufgegeben, wenngleich sich in Apg 28,28 eine deutliche Zuwendung zum Heidentum vollzieht. Doch selbst diese ist bereits von Anfang an grundgelegt und Ausdruck des göttlichen Willens, alle zu erlösen. Bereits vierzig Tage nach seiner Geburt bezeugt Simeon, Jesus sei „ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für sein (dein) Volk Israel“ (Lk 2,32). Die Ablehnung durch die Juden wird unter Berufung auf den Propheten Jesaja (Jes 6,9-10) auf Unwissenheit zurückgeführt, eine Umkehr ist also jederzeit möglich. Lukas nennt die Kirche nie das neue oder wahre Israel. Das Heil gilt in gleicher Weise Juden wie Heiden. Dass sich Gott auch den Heiden zugewandt hat, wird bereits in der Verkündigung Johannes des Täufers deutlich. Nur im Evangelium nach Lukas wird das Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja („Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg!“ … - Jes 40,3-5) durch den Zusatz „Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt“ (Lk 3,6) ergänzt. Im Schlusswort der Apostelgeschichte geht diese Verheißung in Erfüllung, wenn Paulus in Rom sagt: „Den Heiden ist dieses Heil Gottes gesandt worden. Und sie werden es hören!“ (Apg 28,28).
Innerhalb der Kirche kommt dem Kreis der Zwölf besondere Bedeutung zu. Lukas bindet das Apostolat an die Zwölf. Sie sind Zeugen der Worte und Taten des irdischen Jesus seit seiner Taufe. Das Pfingstereignis macht sie schließlich zum Kern der Kirche und zu Verkündern der Auferstehung Jesu.
Lukas ist der Evangelist der Freude. Das Heil, das Gott den Menschen schenkt, gibt immer wieder Anlass zu Freude und Jubel. Dies verdeutlichen die Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers (Lk 1,14), das Magnificat (Lk 1,47), die Geburt Jesu (Lk 2,10), die Seligpreisungen (Lk 6,23), der Lohn der Jünger (Lk 10,20), die Umkehr des Sünders (Lk 15,7.10), die Einkehr Jesu bei Zachäus (Lk 19,6) und die Himmelfahrt Jesu (Lk 24,52). Dabei gilt die besondere Zuwendung Gottes den Armen. Ihnen wird das Evangelium verkündet (Lk 4,18; 7,22).
Lukas hebt die Rolle des Heiligen Geistes besonders hervor: Jesus ist von seiner Empfängnis an Träger des Geistes, dasselbe gilt in der Apostelgeschichte für die Kirche. Beim ersten öffentlichen Auftritt Jesu in seiner Heimatstadt Nazaret, das für das Evangelium programmatischen Charakter hat, wird mit einem Zitat aus dem Buch Jesaja herausgestellt, dass mit Jesus der verheißene Geistträger gekommen sei.
Der Evangelist Lukas misst dem betenden Jesus besonderen Stellenwert zu. Jesus betet vor wichtigen Momenten seines Wirkens: Lk 5,16: die Heilung des Gelähmten und die Frage nach der Vollmacht der Sündenvergebung; Lk 6,12: die Wahl der Zwölf; Lk 9,18: das Messiasbekenntnis des Petrus; Lk 9,28: die Verklärung; Lk 11,1: das Gebet des Herrn. Auch am Ölberg und am Kreuz wird dem Leser der betende Jesus als Vorbild vor Augen gestellt.
Während die Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi im Evangelium nach Markus noch deutlich zu spüren ist, betont Lukas die Vollendung des einzelnen im Tod (Lk 16,19-31; 23,43). Damit geht auch eine neue Bewertung der Zeit einher. Für Lukas ist die Zeit Jesu die Heilszeit schlechthin. Immer wieder betont er das HEUTE des Heils: Lk 2,11: die Geburt Jesu; 4,21: Die Erfüllung der atl. Verheißung; Lk 5,26: die Heilung des Gelähmten; Lk 19,9: die Umkehr des Zachäus. Das irdische Wirken Jesu wird als satansfreie Zeit dargestellt. Der Satan lässt von ihm nach der Versuchung ab und ergreift erst kurz vor dem Leiden Jesu Besitz von Judas. Daher trägt Jesus den zweiundsiebzig Jüngern bei der Aussendung auf, nichts mitzunehmen, während er den Jüngern vor seinem Leiden sogar zum Ankauf eines Schwertes rät (Lk 22,36). Zuvor aber ruft er ausdrücklich in Erinnerung, dass es ihnen an nichts gemangelt hat, als er sie ohne Geldbeutel, Vorratstasche und Schuhe ausgesandt hat. Die Kirche hat also mit widrigen Umständen zu rechnen. Daher soll ihr das Wirken Jesu als ideale Zeit vor Augen gestellt werden.
In der Deutung des Todes Jesu tritt das Motiv der Sühne in den Hintergrund. Lukas sieht die Ursache für das Heil nicht nur im Tod, sondern auch im Leben und Wirken Jesu begründet. Jesus ist aufgrund seiner gesamten Existenz Urheber des Lebens, er „ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10).