Wenn Sprache rettet
Burgtheaterdirektor Martin Kušej über seine naive Unerschütterlichkeit in Bezug auf die Bibel und die babylonische Sprachverwirrung als Akt der Befreiung
Weil Sprache und Erzählung für mich immer schon sehr wichtig und aufregend waren, hat mich auch in der Bibel die Geschichte mit der babylonischen Sprachverwirrung fasziniert. Genau genommen gibt es ja sogar zwei davon: eine in der Genesis (Gen 11, 1-9) und die andere in der Apostelgeschichte (Apg 2,1-47). In der ersten Geschichte, beim Turmbau zu Babel, wird die Vielsprachigkeit als Strafe interpretiert, im zweiten Fall, zu Pfingsten, ist sie geradezu ein Wunder des Grenzen überschreitenden Verstehens.
Faszination der babylonischen Sprachverwirrung
Die religiösen Deutungen dieses Topos, die historischen Bezüge und seine Rezeption waren über viele Jahrhunderte äußerst vielgestaltig und oft sehr widersprüchlich. Spannend zu erfahren, dass sogar diese Geschichte selbst und ihr „Verstehen“ keine Sicherheit kennt, dass sie sich nach den verschiedensten gesellschaftlichen Umständen, dem Stand der Forschungen, ideologischen Blickwinkeln und glaubensgeschichtlichen Zeitläufen immer anders erschließt. Das bedeutet, dass die Bibel keinesfalls verlässlich ist, keine immerwährende Faktizität besitzt, an der sich jede und jeder orientieren könnte.
Theatralischer Blick
Leider hat man mich in genau diesem Irrglauben erzogen, und es hat einige Mühe gekostet, diese naive Unerschütterlichkeit loszuwerden. Ich kann mich noch genau erinnern, welche Erschütterung die Erkenntnis über die apokryphen Schriften in mir ausgelöst hat – Texte, die aus inhaltlichen oder religionspolitischen Gründen nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden. Ich kann diesen größenwahnsinnigen, alttestamentarischen Turmbau in Babylon also mit meinem eigenen – theatralischen – Blick betrachten. So interessieren mich vor allem immer die ersten Schritte des Menschen in die sogenannte „Zivilisation“, da, wo er ganz bewusst die Vorschriften Gottes übertritt.
Gemeinsame Ursprache
Diese Abfolge von „Verfehlungsgeschichten“ nahm ihren Beginn mit dem Verlust des paradiesischen Urzustandes, ging weiter im Brudermord, der Sintflut und führte bei der „Stadt-Gründung“ (!) in Babylon zur Entzweiung und Zerstreuung. Der wütende Gott strafte den Versuch, sich seiner Anordnung zu widersetzen, nämlich die ganze Erde zu besiedeln, nicht mit einer weiteren Sintflut – der wäre man gerade wegen des Turms vielleicht entkommen! – sondern subtil: Aus der gemeinsamen Ursprache machte er viele Sprachen, sodass die Menschen einander nicht mehr verstanden und sich in die ganze Welt zerstreuten.
Geist Gottes oder Widerstandsgeist der Menschen
So weit, so gut. Nun kann man aber diese Geschichte auch ganz anders und völlig gegenteilig interpretieren: Das Sprachgewirr der Völker ist ein Bild für Freiheit. Die Zerstreuung über die ganze Erde ist kein Fluch, sondern eine Rettungstat. Herrschaft, Macht, Geld, Krieg – Babylons Attribute hatten mit Herrschaftssprache zu tun, mit Definitionsgewalt. Der Verfall des Redens in wechselseitige Unverständlichkeit hat also auch eine sehr politische Komponente oder gar eine revolutionäre – das gefällt mir auch! Wir alle profitieren von der post-babylonischen Polyphonie. Die Vielzahl und Vielfalt der Sprachen müssen wir nicht als Verwirrung, sondern als Bereicherung empfinden. Als einen Akt der Befreiung! Ob der jetzt vom Geist Gottes ausgegangen ist oder aus dem Widerstandsgeist der Menschen, muss jeder für sich selbst entscheiden.
- Erstveröffentlichung des Beitrags von Martin Kušej in: „Lebensbuch Bibel“ , Jahrbuch der Diözese Gurk 2020, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).