Verdichtung des Lebens
Wie das Nachdenken über das Sterben zu einem neuen Geschmack am Leben führen kann
von Diözesanbischof Dr. Alois Schwarz
Das Sterben verdichtet das Leben. Ohne das Sterben würde unser Leben verflachen. Es wäre alles belanglos und wiederholbar. Beziehungen, die wir pflegen, und Aufgaben, wir nachkommen, sind einmalig und einzigartig. Das Leben verkommt durch den Tod nicht zu einer Abfolge belangloser Stunden und Tage. Das Sterben macht Begegnungen einmalig und unwiederholbar. Wer das eigene Sterben ernst nimmt, wer schon eine Nahtoderfahrung gemacht hat, wird entdecken, dass eigentlich nur noch zwei Dinge zählen, schreibt Michael Bordt: „Tiefe menschliche Beziehungen zu leben und etwas Sinnvolles für andere zu tun. Alles andere – Reisen, Erfolg, Ansehen, Besitz, Karriere und Leistung – hat für sie an Geschmack verloren“ (Die Kunst sich selbst auszuhalten, S. 27). Wer entdeckt, dass sein Leben einzigartig ist, wird bei diesem Gedanken erkennen, dass daraus Tiefe und Kreativität wachsen.
Neuer Geschmack am Leben
Der Gedanke an das eigene Sterben kann zu einem neuen Geschmack am Leben führen. Allerdings: Mit solchen Gedanken muss man sich erst anfreunden. Das ist ein Prozess, der sich in verschiedenen Phasen abspielt. Dazu ist das Zulassen von Einsamkeit notwendig. In einer Gesellschaft, in der Arbeit, Leistung, Aktivität und Erfolg so hoch geschätzt werden, wird jede Auseinandersetzung mit Sterben und Tod an den Rand gedrängt. Es ist gar nicht einfach, jemandem zu erzählen, dass man sterben wird. Dann folgt ja sofort die Beschwichtigung, dass es ohnedies nicht so tragisch sei und dass immer noch Wunder möglich seien. Das ist tatsächlich möglich, aber meist bleiben die Wunder einer Heilung von Sterbenden aus.
Rechtzeitige Aussöhnung
Wichtig ist, dass alles, was ausgesprochen oder noch ausgesöhnt werden muss, so rechtzeitig geschieht, dass der Betreffende noch reden kann. Wer nicht ausgesöhnt ist mit seinen Angehörigen, kann oft lange nicht sterben. Manche warten auch noch, bis es zu einer letzten Begegnung kommen kann. Manche wollen das Sterben den eigenen Angehörigen nicht zumuten. Sie erleben den Besuch, der vielleicht der letzte sein könnte, und reden und zeigen ihre Aufmerksamkeit. Und dann verabschieden sich alle mit der Hoffnung, einander bald wieder zu sehen. Dann ist für manche der Augenblick gekommen, das Leben loslassen zu können. „Wir waren ja gerade noch dort“, so ist dann die erste Reaktion auf die Nachricht des Todes.
Fragen des Testamentes rechtzeitig klären
Sich mit dem eigenen Sterben auseinander zu setzen ist immer auch dann notwendig, wenn jemand ein Testament schreiben muss. Für mich ist es unvergesslich, wie ich einem fast 100-jährigen Pfarrer geholfen habe, ein Testament zu schreiben. Einiges hatte er schon aufgeschrieben, aber noch nicht fertig formuliert. Es war für mich sehr berührend, ihm einige Fragen zu stellen und ihm bei seinen Antworten nahe zu sein. Ich fragte ihn, wo er begraben werden wolle, was mit seinen privaten Gütern geschehen solle, wen man verständigen müsse, wer etwas erben solle. Es ist ja wirklich nicht so einfach, all das aufzuschreiben, was nach dem eigenen Sterben alles sein sollte. Bei Exerzitien mit Priestern ermutige ich immer wieder, auch das eigene Testament neu zu bedenken, ob es noch aktuell ist oder ob sich manches geändert hat. Einige fangen dann überhaupt erst an, ein Testament zu schreiben. Ein Priester, bei dem ich oft Exerzitien machte, hat uns immer wieder ermutigt, das Testament zu ordnen. Als er sich selber zum Sterben bereit machen musste, durch eine schwere Krankheit gezeichnet, da war es für seine Vertrauten nicht leicht, mit ihm die Fragen des Testamentes zu klären. Er hat es lange hinausgeschoben, die Fragen seiner Grabstätte, seines Begräbnisses, seine Verfügungen über seine persönlichen Sachen wie Bücher zu formulieren. Schließlich hat er es geschafft. Es ist also nicht so leicht, das eigene Sterben wahrzunehmen.
Persönliche Erfahrungen
Manches habe ich über mich selbst erst erfahren, als meine Mutter und mein Vater gestorben sind. In den letzten Wochen seines Lebens hat mich mein Vater bei meinen Besuchen immer wieder gefragt: „Hast du etwas mitgebracht?“ Damit meinte er die Kommunion, die er als Stärkung in seinem Leben verstanden hat. Er wartete nicht nur auf mich selber, sondern auch auf den, den ich ihm als Priester reichen durfte: auf den Heiland. Wir hatten als Kinder mit den Eltern über den Glauben nicht viel miteinander gesprochen. Es war so selbstverständlich, als Christ zu leben, in die Kirche zu gehen und die Sakramente zu empfangen. Es war bei uns zu Hause auch selbstverständlich, dass die Mutter uns Kindern beim Weggehen von daheim immer den Segen gab.
Sterben – „Gesegnet sein“ mit der mütterlichen Geste der Liebe
Als ich mich am letzten Tag ihres Lebens – es war ein Sonntag, und wir Kinder, alle fünf, waren zu Hause – von ihr am Abend verabschiedete, hat sie mit ihrer letzten Kraft die Hand gehoben, um mir den Segen auf die Stirn zu geben. Sterben ist für mich seitdem „gesegnet sein“ mit der mütterlichen Geste der Liebe. Dankbar für die Aufbereitung des Themas „Sterben“ in diesem Jahrbuch und für die so vielseitigen Anregungen zur Verdichtung des Lebens wünsche ich allen Leserinnen und Lesern, was Hilde Domin geschrieben hat: „Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber. Kostbarer Unterricht an den Sterbebetten. (…) Nur einmal sterben sie für uns, nie wieder. Was wüssten wir je ohne sie.“
Autor: Diözesanbischof Dr. Alois Schwarz
Erstveröffentlichung in: "Lebensthema - Sterben", Jahrbuch der Diözese Gurk 2016, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).