Rituale des Abschiednehmens
Menschliche Grenzsituationen im Glauben begleiten
Von Sr. Marcella Fellinger, Kloster Wernberg
Tägliche Abschiede
Noch heute spüre ich die Hand meiner Mutter auf meiner Stirn, das Kreuzzeichen mit dem Weihwasser und höre ihre Worte „In Gottes Namen“ – meistens fügte sie noch hinzu: „Es wird schon wieder recht werden.“
Sehr oft, ja, jeden Tag vor dem Schulweg und dem Schlafengehen haben wir Kinder dieses Ritual von Abschied und Segen von ihr geschenkt bekommen. Es ist in unsere Seele hineingewachsen. Bis ins hohe Alter hat sie uns Kinder, die wir längst keine Kinder mehr waren, mit dem Kreuz auf der Stirne gesegnet und oftmals Abschied genommen.
Wir hatten das Glück, als sie starb, auch mit dem Kreuz auf ihrer Stirn von ihr Abschied nehmen zu dürfen.
Kreuzzeichen und Segen.
Diesen, von meiner Mutter geerbten Abschiedssegen, habe ich immer „zur Hand“, wenn ich bei schwer kranken oder sterbenden Menschen bin. Und, wenn ich jemand nicht kenne oder unsicher bin, ob für diesen Menschen, in diesem Augenblick, das Kreuzzeichen hilfreich sein könnte, frage ich immer: „Darf ich Ihnen ein Kreuzzeichen auf die
Stirne machen?“Ich bin überzeugt, dass nichts schlimmer ist, als etwas aufgedrängt zu bekommen in einer Situation, wo man sich nicht wehren kann oder sich ausgeliefert fühlt – auch wenn mein Handeln noch so heilig ist. Nur einmal habe ich nach dieser Frage in den Augen eines schwer kranken sterbenden Herrn ein „Nein“ zu erkennen gemeint. Viele andere dagegen haben ein „Ja, bitte“ ausgedrückt. Der Abschiedssegen auf der Stirne wird als Berührtwerden von Gott selbst in der Personmitte, als Geschützt- und Begleitetwerden, als existentielle Zuwendung erfahren. In einem Text heißt es: „Ich habe keine anderen Hände als die deinen.“ Die Nähe Gottes können Menschen meist nur durch die Nähe eines liebevollen, barmherzigen und einfühlsamen Mitmenschen erfahren.
Wenn das Leben in den Gebeten zur Sprache kommt.
In existentiellen Krisensituationen greifen kranke, sterbende oder auch trauernde Menschen auf vertraute Formen des Gebetes zurück. Selbst Gebete aus Kindertagen, die längst vergessen oder verloren geglaubt sind, steigen aus der Tiefe ihres Urvertrauens auf. Gebe
Gott, dass noch viele Generationen diesen
Gebetsschatz in sich tragen.
• Vater unser und Gegrüßet seist du Maria
• Jesus dir leb ich
• Unter deinem Schutz und Schirm
• Jungfrau Mutter Gottes mein …
Beim Rosenkranz geht es nicht darum, dieses anspruchsvolle Gebet in seiner ganzen Länge beten zu können. Schon alleine die Perlen in der Hand können das Vertrauen in die Liebe und Barmherzigkeit Gottes stärken. Sie können das Gefühl vermitteln, sich anhalten zu können, wenn Sicherheit und Halt gefährdet sind.
In allen Gebeten kommt das Leben und das Sterben zur Sprache. Es wird in ihnen oft „Unsagbares“ ausgedrückt mit Worten, die von Kindheit an vertraut sind. Worte, die auf einmal eine ganz direkte Bedeutung und Ehrlichkeit aufzeigen, wie „… jetzt und in der Stunde unseres Todes“ oder „Jesus, dein bin ich, im Leben und im Tod“.
Und, ich brauche als begleitender Mensch dann nicht erst nach Formulierungen zu suchen, wenn es mir in solchen Momenten ohnehin die Kehle zuschnüren möchte.
Abschiednehmen als persönlicher und öffentlicher Akt.
Die Totenwache am Tag vor dem Begräbnis ist ein Ritual des Abschiednehmens, in das alle Freunde und Nachbarn eingebunden sein können. Das gemeinsame Gebet schafft eine Atmosphäre der Solidarität, in der alle Gefühle ihren Platz haben, auch wenn es auf den ersten Blick nach „Herunterbeten“ klingt und nur Formsache zu sein scheint. Selbst Menschen, denen das Gebet nicht so vertraut ist, können sich hier einlassen. Hilfreiche Texte für die Gestaltung der Totenwache finden sich im „Gotteslob“ auf den Seiten 80 und
791. Abschiednehmen ist einerseits ein sehr intimer und persönlicher, anderseits aber auch ein Akt mit starkem öffentlichem Charakter. Auch das Begräbnis und das anschließend gemeinsame Essen gibt dem Verstorbenen noch einmal einen zentralen Platz. Trauernde haben die Möglichkeit, über sich und ihre Verstorbenen zu sprechen und dabei Wertschätzung und Anteilnahme zu erfahren.
Bei sehr plötzlichen Abschieden ist das Begräbnis auch ein Ort, der Realität aufzeigt. Trauernde haben oft das Bedürfnis nach einem ganz stillen Abschied. Später, auf dem langen Weg der Trauer, wird aber dieses Begräbnis „in aller Stille“ als wenig hilfreich erfahren. Auch dann, wenn ein Abschiednehmen nicht möglich war, oder aus gut gemeinter „Schonung“ verhindert wurde, können Trauernde lange darunter leiden.
Abschied in kleinen Schritten.
Alle Rituale des Abschiednehmens, die eine familiäre oder eine örtliche Tradition haben, sind hilfreiche Stationen. Zum Beispiel:
• Über der Türschwelle des Heimathauses werden drei Kreuzzeichen mit dem Sarg gemacht als Zeichen des Segens und des Abschieds.
• Das Gestalten der Parte und der Totenbildchen mit christlichen Texten und Symbolen (Bestattungsunternehmen sind sehr
offen für persönliche Wünsche).
• Der Friedhofbesuch, die Grabpflege mit Blumen und das Entzünden der Lichter. Dies sind Zeugnisse für die Sehnsucht der Menschen nach Auferstehung. Das Licht symbolisiert Christus den Auferstandenen. Für trauernde Menschen ist die brennende Kerze die sichtbar gemachte Verbundenheit mit den Verstorbenen und mit Gott.
• Die 8-Tag-Verrichtung, das Jahresgedächtnis. Sie sind ein Abschied in kleinen Schritten, denn Loslassen braucht Zeit, braucht äußere Zeichen und verstehende Mitmenschen.
Kraft und Selbstvertrauen durch Rituale des Abschieds.
In all diesen Formen und Strukturen kommt der tiefe Glaube und die Sehnsucht nach einem Leben bei Gott, an ein Wiedersehen und an die Auferstehung zum Ausdruck. Selbst dann, wenn Menschen in ihrem tiefen Schmerz nicht darauf zu hoffen wagen. Sie sind dennoch in ihrer Klage, die sich oft im „warum“ ausdrückt, in ihrem Suchen nach Antwort, von diesem Glauben getragen, gehalten und aufgefangen.
Viele Rituale des Abschiednehmens haben eine lange Tradition. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben und haben vielen Menschen nach großen Verlusterfahrungen wieder leben geholfen.
Rituale können auch erstarren und nicht mehr hilfreich sein, besonders dann, wenn sie Angst vor dem Tod oder Angst vor den Toten auslösen.
Die christlichen Rituale des Abschieds möchte ich mit einem gesicherten Klettersteig in den Bergen vergleichen, bei dem ich mich mit Gurt und Karabiner festmachen kann, der mich nach oben führt. Die Mühe des Aufstiegs wird mir nicht erspart, aber ich wachse über mich hinaus und gewinne Kraft, Selbstvertrauen und Lebensmut.
(Text erstmals veröffentlicht im Jahrbuch der Diözese Gurk 2006)