Die Bibel meditieren
von Mag. Klaus Einspieler

Diese Worte sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen (Dtn 6,6)
Was bedeutet eigentlich das Wort meditieren? Es ist zu einem Schlagwort geworden, das man vielerorts eher mit östlicher Gebetspraxis, als mit christlicher Religiosität verbindet; und dennoch muss gesagt werden, dass uns schon die Bibel Wege der Meditation vor Augen führt.
Als Beispiel kann uns der Eröffnungspsalm des Psalmenbuches dienen. Er stellt uns vordergründig zwei Wege vor Augen – den Weg des Gerechten und den Weg des Frevlers. Vom Gerechten sagt er unter anderem, dass er Freude hat an der Weisung des Herrn und über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht (Ps 1,2). Hieronymus, der Übersetzter der Bibel in die lateinische Sprache, gibt das Wort nachsinnen mit dem lateinischen Ausdruck meditari wieder. Davon leitet sich – wie leicht zu erkennen ist – das Wort meditieren, Meditation ab. Der Gerechte ist demnach ein Mensch, der meditiert. Die Quelle seiner Meditation ist die Weisung des Herrn, die Tora, das sind die fünf Bücher des Mose, welche den Reigen der biblischen Bücher eröffnen.
Wie aber sieht dieses Meditieren aus? Martin Buber, Schöpfer einer Bibelübersetzung, die wie keine andere den Geist der hebräischen Bibel atmet, verdeutscht den Psalmenvers etwas kraftvoller; demnach ist der Gerechte jener, der Lust hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung murmelt tages und nachts (Ps 1,2). Das Murmeln (meditieren) erinnert uns an Juden, welche die Verse der Weisung in Synagogen, Schulen und anderswo halblaut rezitieren, um sie zu verinnerlichen.
Das Wort hagah (nachsinnen, murmeln) wird im Hebräischen auch für das Gurren der Tauben verwendet. Wie die Tauben ständig gurren, soll auch das Wort Gottes ununterbrochen auf den Lippen des Menschen sein.
Das führt uns zu einem weiteren gewichtigen Text des Alten Testaments, dem Höre, Israel!, das der gläubige Jude am Morgen und am Abend betet. Für uns Christen ist es zudem durch Jesus Christus besonders kostbar geworden, weil er sich, nach dem wichtigsten aller Gebote befragt, auf diesen Text beruft. Er beginnt mit den Worten: Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. (Dtn 6,4-6). Gemeint ist mit diesen Worten nicht nur das Höre, Israel!, sondern die gesamte Weisung. Derselbe Gedanke also, den wir schon im Psalm 1 kennengelernt haben. Meditieren heißt, das Wort Gottes auf seinem Herzen und auf seinen Lippen zu tragen.
Auf dem Herzen geschrieben stehen heißt in der biblischen Sprache nichts anderes als etwas auswendig zu können. Dieses Wissen hat sich in einigen Sprachen noch erhalten. So heißt auswendig lernen im Englischen to learn by heart, oder im Französischen par coeur, also mit dem Herzen.
Meditieren heißt also, das Wort Gottes auswendig zu lernen, es sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Herzen zu nehmen. Das müssen keine ellenlangen Texte sein. Zu Beginn genügt wahrscheinlich schon ein Vers aus dem Buch der Psalmen oder einer anderen biblischen Schrift. Ein Text oder Vers, den ich auswendig kann, wird so zu einem ständigen Wegbegleiter. Im Wiederholen, sei es bei der Arbeit oder in der Freizeit, eröffnet er uns manchmal seine ungeahnte Reichweite. Er kann zu einem Wegweiser werden, der uns hilft, unser Leben zu deuten und auszurichten. Er spendet Trost oder fordert heraus, unser Leben an seinem Anspruch zu messen.
Die Meditation, von der die Bibel spricht, steht dem Menschen nicht nur zu bestimmten Zeiten und an dafür bestimmten Orten zur Verfügung. Sie will den Menschen durch seinen Alltag begleiten. Der Meditierende ist wie ein Sammler, der sich das Wort Gottes aneignet und mit sich trägt. Je länger er sammelt, desto größer wird sein Schatz, desto weiter sein Horizont. Die Meditation ist demnach immer auch mit Treue und Standfestigkeit verbunden. Sie ist Antwort auf den treuen Gott, der sein Volk durch die Zeiten geleitet und mit seinen Gaben beschenkt. Die Treue, die auch in spirituellen Wüsten durchhält, wird durch einen plötzlichen Regenguss in einen blühenden Garten verwandelt.
Die Bibel ist in erster Linie ein Buch, das in Gemeinschaft gelesen und meditiert werden will. Dafür eignen sich vor allem die Psalmen. Es soll nun eine Form vorgestellt werden, wie ein Psalm im Gebetskreis, einer Gruppe, oder nicht zuletzt auch in der Familie meditiert werden kann:
- Zunächst wird der Psalm von der Gemeinschaft wechselchörig vorgetragen. Das Wechselgebet hat eine lange Tradition und entwickelt, je mehr die Gemeinschaft darin geübt ist, eine meditative Kraft, die von den Ordensgemeinschaften schon seit Jahrhunderten geschätzt wird. Die meisten Psalmen sind im Gotteslob für das Wechselgebet aufbereitet. Die Nr. 707 gibt außerdem eine Einführung in das Gebet der Psalmen.
- Nach einer kurzen Pause wird der Psalm von einem Lektor vorgetragen. Nach dem Lesen kommt also das Hören.
- Es folgt eine Zeit der Stille. Die Dauer hängt von der Gruppe ab, sollte aber nicht kürzer als fünf Minuten sein. In dieser Zeit liest jede(r) den Psalm für sich durch und bleibt bei Versen stehen,die als besonders aussagekräftig erscheinen. Diese Verse werden bewusst wiederholt und – wenn möglich – auswendig gelernt.
- Danach teilt man sich die Verse der Reihe nach mit. Die Gruppe wiederholt jeden Vers, um so zu bekunden, dass der Beter und die Beterin in eine Gemeinschaft eingebettet sind. Natürlich kann ein Vers auch mehrmals wiederholt werden.
- Nun wird der Psalm nochmals wechselchörig gesprochen. Diesmal beginnt die zweite Gruppe, um den Psalm von beiden Seiten kennenzulernen. Er ist jetzt angereichert mit der geistlichen Erfahrung der Betenden.
- Diese Art der Meditation kann im Stundengebet von Gemeinschaften helfen, den Blick für die Tiefe der Psalmen zu schärfen. Zusammenkünfte könnten so eröffnet oder beschlossen werden und damit eine geistliche Dimension bekommen. In diesem Fall sollte man die Meditation durch das Kreuzzeichen eröffnen und durch ein Gebet oder eine Segensbitte beschließen.
Psalmen und Gesänge meditieren
1. Schritt: Wechselgebet(-gesang)
Der Psalm wird zunächst von zwei Gruppen abwechselnd gebetet oder gesungen.
2. Schritt: Psalmenlesung
Die Psalmenlesung soll das Hören auf das Wort Gottes fördern. Der Psalm wird von einem Lektor oder einer Lektorin als Lesung vorgetragen.
3. Schritt: Aneignung des Psalms
Der Sinn dieses Schrittes ist, dass der Psalm zum persönlichen Gebet wird. Dafür ist eine längere Stille nötig (die Dauer orientiert sich an der Länge des Psalms und an der Gruppe). Die leitende Person kündigt diesen Schritt mit folgenden oder ähnlichen Worten an:
Ich lade Sie nun ein, in Stille über den Psalm nachzudenken.
Halten Sie bei Versen inne, die Sie besonders ansprechen.
Denken Sie auch darüber nach, was jene Verse meinen könnten,
die Sie nicht verstehen oder die Sie abstoßen.
Suchen Sie nach einem Gedanken oder einem Vers, der Sie besonders anspricht,
und lernen Sie ihn auswendig.
STILLE
Nach einer angemessenen Zeit der Stille beendet die leitende Person die persönliche Meditation und lädt zum Austausch ein:
Wir beenden nun die Stille.
Ich lade Sie ein, uns jenen Vers des Psalms mitzuteilen, der Sie am meisten angesprochen hat.
Im Anschluss daran werden wir den Vers gemeinsam wiederholen.
Wir bringen damit zum Ausdruck, dass uns das Wort Gottes zu einer Gemeinschaft verbindet.
Nun teilen die Gläubigen ihren Vers mit. Jeder Vers, auch wenn er schon mehrmals genannt wurde, wird von allen wiederholt.
4. Schritt: Wechselgebet(-gesang)
Anschließend wird der Psalm noch einmal von den beiden Gruppen abwechselnd gebetet oder gesungen. Diesmal beginnt jedoch die Gruppe, die anfangs mit dem zweiten Vers begonnen hat, um den Psalm sozusagen von der anderen Seite kennen zu lernen.
5. Schritt: Psalmoration
Die leitende Person beschließt die Meditation mit einer Psalmoration. In ihr wird der Grundgedanke des Psalms noch einmal zur Sprache gebracht. An diese Stelle kann auch ein gemeinsames Gebet oder Lied treten.