Was sind die Evangelien?

Anmerkungen zur Begriffs- und Entstehungsgeschichte

von Mag. Klaus Einspieler

Tabernakel in der Pfarrkirche St. Josef-Siebenhügel - die Emaileinlegearbeiten von Josef Koblinger zeigen Christus, das Lamm Gottes, und die vier Evangelistensymbole (© Foto: Internetredaktion - KH Kronawetter)
Tabernakel in der Pfarrkirche St. Josef-Siebenhügel - die Emaileinlegearbeiten von Josef Koblinger zeigen Christus, das Lamm Gottes, und die vier Evangelistensymbole (© Foto: Internetredaktion - KH Kronawetter)

„Dies aber ist aufgeschrieben, damit ihr glaubt“ (Joh 20,31) 

Der Ursprung des Begriffs „Evangelium“ kann vermutlich auf zwei Quellen zurückgeführt werden:

Das Alte Testament
Die beiden Schlüsselstellen im Buch des Propheten Jesaja weisen thematisch bereits auf das Neue Testament hin:
Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt (LXX : euaggelizómenos – ein Evangelium verkündend) und Rettung verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König (Jes 52,7). Es fällt auf, dass Markus in der Zusammenfassung der Verkündigung Jesu zu Beginn seines Evangeliums dieselben Motive einführt: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes (wörtlich Königtum Gottes) ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15)

Beide Texte sprechen also von einem Evangelium. Der Inhalt dieses Evangeliums ist in beiden Texten das Anbrechen des Königtums Gottes (die Einheitsübersetzung gibt diesen Begriff mit Reich Gottes wieder).
Die zweite Stelle mit dem Begriff „ein Evangelium verkünden“ im Buch des Propheten Jesaja wird später im Lukasevangelium zitiert:
Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe (Jes 61,1-2; Lk 4,18-19). Auch hier wird das HeilshandelnGottes angesprochen. Im Tun des Gesalbten leuchtet das Reich Gottes auf (vgl. Lk 7,18-23).

Den Kaiserkult der Antike
In diesem Kontext bedeutet das Wort Evangelium die frohe Kunde über das anbrechende Heil angesichts der Geburt bzw. des Regierungsantritts eines neuen Herrschers. Nachdem die Evangelien vor allem den griechischen Kulturkreis im Blick haben, ist diese Verbindung durchaus zu bedenken.

Die synoptische Frage
Für die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas hat sich seit dem 18. Jh. der Begriff die synoptischen Evangelien eingebürgert. Das griechische Wort synopsis bedeutet Zusammenschau. Angesichts zum Teil wörtlicher Übereinstimmungen zwischen diesen drei Evangelien geht man nämlich davon aus, dass unter ihnen eine noch näher darzustellende Abhängigkeit bestehen muss.

Ein Vergleich der drei Evangelien führt zu folgendem Befund:

  • Es gibt bei Matthäus, Markus und Lukas einen gemeinsamen Textbestand.
  • Eine zweite Gruppe von Texten finden wir nur bei Matthäus und bei Lukas.
  • Schließlich befinden sich im Evangelium nach Matthäus Texte, die sonst nirgends überliefert sind. Dasselbe gilt in noch größerem Maße für Lukas.
     

Was das Verhältnis der Evangelien nach Matthäus und Lukas zu Markus betrifft, gilt:

  • 90 % von Markus finden sich bei Matthäus wieder, Lukas beinhaltet immerhin noch 55 % von Markus. Von den 609 Versen des Markusevangeliums fehlen also bei Matthäus und Lukas nur  30   Verse.
  • Matthäus und Lukas stimmen in der Anordnung der Texte immer dann überein, wenn sie auch mit Markus übereinstimmen.

Aus diesen und anderen Beobachtungen ergaben sich ab dem 19. Jh. einige Theorien über die Entstehung der drei Evangelien. Vor allem im europäischen Raum hat sich schließlich die so genannte Zweiquellentheorie durchgesetzt.

Die Zweiquellentheorie besagt:

  •   Matthäus und Lukas haben beide das Markusevangelium als Vorlage benutzt. So kann die große Übereinstimmung mit Markus erklärt werden.
  •   Zudem haben Matthäus und Lukas einen Text benutzt, der in der Forschung Logienquelle (Kürzel Q) genannt wird. Dieser Text war Markus unbekannt.
  •   Außerdem verwenden Matthäus und Lukas Überlieferungen, die nur in einem der beiden Evangelien zu finden sind, das so genannte Sondergut.            

Dass es bereits relativ früh Schriften über die Lehre und das Wirken Jesu gab, können wir dem Evangelium nach Lukas entnehmen. Im Vorwort deutet nämlich der Verfasser an, er sei nicht der erste, der über das Leben und die Lehre Jesu berichtet:

Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hoch verehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest (Lk 1,1-4).
Lukas gibt also an, es gäbe schon Darstellungen über das Wirken Jesu. Ihre Verfasser sind nicht die Apostel selbst. Sie fühlen sich aber an die Überlieferung der Augenzeugen gebunden. Die Evangelien sind also apostolischen Ursprungs, weil sie auf das mündliche Zeugnis der Apostel zurückgehen. Dieser Grundsatz war ein wichtiges Kriterium für die Unterscheidung, welche Schriften zum Kanon der Bibel gehören und welche nicht. Das Ringen um den Kanon dauerte zumindest bis zum 4. Jahrhundert. Weil Lukas darum weiß, dass es schon Darstellungen des Lebens Jesu gibt, kann er mit seinen Vorlagen relativ frei umgehen. Er muss also nicht alles wiedergeben, was bereits geschrieben worden ist. Dafür bekommen in seinem Evangelium jene Überlieferungen mehr Raum, die bisher noch nicht entsprechend gewürdigt worden waren. Freilich hat Lukas – obwohl ihm dies immer wieder nachgesagt wurde und wird – in erster Linie nicht ein historisches Interesse an den Umständen des Lebens Jesu. Seine Schrift soll die Leser/Hörer von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der sie unterwiesen worden sind (Lk 1,4). Demnach ist das Evangelium ein Glaubenszeugnis und kein Protokoll. Das ist bei der Auslegung zu bedenken.

Die Logienquelle (Kürzel Q)
Die Logienquelle (Kürzel Q) kann aus den Evangelien nach Matthäus und nach Lukas rekonstruiert werden. Dafür kommen jene Texte in Betracht, die sowohl bei Matthäus, als auch bei Lukas überliefert sind, nicht aber bei Markus. Dabei ist zu bedenken, dass weder Matthäus noch Lukas das gesamte Markusevangelium wiedergeben. Daher können wir annehmen, dass der ursprüngliche Textbestand der Logienquelle sogar etwas umfangreicher gewesen sein dürfte, als es die Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas vermuten lassen.
Weil Lukas das Textmaterial genauer überliefert als Matthäus, wird die Logienquelle nach Lukas zitiert. Während nämlich Lukas ganze Texteinheiten der Logienquelle übernimmt, hat Matthäus das Material neu geordnet und zu thematischen Blöcken zusammengefasst. Man geht heute davon aus, dass die Logienquelle unter Umständen mehrmals bearbeitet wurde. Das würde erklären, warum bei Matthäus und bei Lukas nicht wörtlich derselbe Text vorliegt.
Die Logienquelle ist – wie bereits die Bezeichnung selbst vermuten lässt – eine Sammlung von Jesusworten. Sie beinhaltet vor allem Bild-, Droh- und Vergleichsworte, sowie Seligpreisungen, Mahnreden und pointierte Worte. Die Gerichtsthematik tritt dabei stark in den Vordergrund. Die Logienquelle kommt ohne die Passions- und Auferstehungsbotschaft aus. Für sie ist der irdische Jesus mit seiner Botschaft die maßgebliche Größe. Das Heil des Menschen wird mit den ethischen Forderungen Jesu verknüpft. Die Mission ist bereits auf die Heidenwelt und nicht mehr vorrangig auf Israel ausgerichtet.
Die Logienquelle bevorzugt für Jesus den Titel Menschensohn. Sie meint damit aber nicht nur den apokalyptischen Menschensohn, der zum endzeitlichen Gericht kommt, wie etwa das Danielbuch. Auch der irdische Jesus, der sich selbst erniedrigt hat, wird Menschensohn genannt. Damit wird der alttestamentliche Begriff durch einen bedeutenden Gesichtspunkt ergänzt.