Ein Engel für jede Gelegenheit
Ein „geflügelter“ Streifzug durch unsere Alltagskultur
„Du bist ein Engel!“ – Wer hört das nicht gerne: als Dank für dringend ersehnte Hilfe oder als Aus- druck der Zuneigung zu einer Person, die unverhofft dem Leben eine neue Richtung gibt. Auch die verstorbene Oma wird zum Engel, wenn wir einem Kind ihren Tod erklären wollen. Der glimpfliche Ausgang eines dramatischen Unfalls entlockt uns ein spontanes „Die hat aber einen Schutzengel
gehabt!“ Oft ist es schwer zu entscheiden, ob solche Aussagen metaphorisch gemeint oder mit der Vorstellung verbunden sind, dass sich Gottes Liebe und Fürsorge durch Geschöpfe mitteilt.
Engel trösten und begleiten
Dass in einer Kirche der Erzengel Michael mit erhobenem Schwert streng auf uns herabschaut, das Altarbild seinen Kollegen Gabriel mitMaria zeigt und dazwischen pummelige, geflügelte Kleinkinder („Putti“) herumschwirren, überrascht uns nicht. Vertrautes auch auf dem nahen Friedhof: Neben vielen kleinen begegnen uns einige stattlichere Engel mit majestätischen Schwingen und abwesendem, gesenktem Blick als Symbol der Trauer. Doch solch ein mächtiger Begleiter ins Jenseits vermittelt auch Trost. Aber es gibt auch manch unvermutete Begegnung mit den himmlischen Boten. Setzen wir unseren Spaziergang fort.
Engel schmücken
Ein krasser Kontrast: Nach Stille und Beschaulichkeit umgibt uns die Hektik eines Einkaufszentrums. Ein Shop reiht sich an den nächsten. In einem, der Geschenk- und Dekorationsartikel feilbietet, werden wir gleich mehrfach fündig: Engelsfiguren in unterschiedlichen Stilen und Größen. Einige davon sind ausdrücklich als Schutzengel (sogar mit persönlichem „Zertifikat“!) ausgewiesen. Auch die zwei berühmtesten Putti der Welt fehlen nicht. Gelangweilt bis frech, als würden sie etwas aushecken, blicken sie uns von Kaffeehäferln und Papierservietten an. Ursprünglich waren sie nur Randnotizen, mittlerweile sind sie Bestseller. Im Schmuckgeschäft nebenan geht es weiter: Silberne Flügelchen und bunte Klangkugeln an Halskettchen sollen helfen, sich seinen persönlichen Schutzengel nicht nur vorzustellen, sondern auch „herbeizurufen“. Daneben liegen Armbänder, die jeweils
einem Erzengel und seinem angeblichen Zuständigkeitsbereich (Gesundheit, Ausgeglichenheit,
Lebensfreude, Mut, Führung, Liebe etc.) gewidmet sind. Ihr Innenleben aus Bernstein soll zudem heilende Eigenschaften besitzen.
Engel unterhalten
Bei einer großen Buch- und Medienhandelskette offenbart ein kurzer Blick auf die angebotenen DVDs: Auch in Spielfilmen und TV-Serien tummeln sich Engel – als Symbol des Übernatürlichen oder als Liebesboten, mitunter auch zusammen mit ihren rebellischen Pendants, den Dämonen, die bisweilen ein ungewohnt freundlichesGesicht zeigen.
Engel beraten und heilen
Engel füllen offenbar zahllose Seiten von „Ratgebern“. Die meisten davon stehen unter einigen Laufmetern – wie angeschrieben – „Lebenshilfe und Esoterik“. Der Klappentext eines Buches spricht von der machtvollen Präsenz der Engel in unserer Welt. Übungen und Meditationen sollen Zugang zu ihren Kräften gewähren, die in materiellen wie spirituellen Notlagen und Liebesangelegenheiten helfen, Kinder beschützen oder gar Kranke heilen sollen. Ein paar Engel-Bücher verstecken sich im schmalen Regal „Philosophie und Religion“. Der katholische Autor eröffnet in der Einleitung, dass seine Engel eigentlich Chiffren für Tugenden oder Lebenshaltungen seien.
In einem Esoterik-Shop ein paar Gassen weiter findet sich – neben teilweise den gleichen Büchern – noch mehr: Engelkarten mit sehr „hoher Schwingung“, erklärt die freundliche Verkäuferin, würden Weisheit und innere Führung der Engel vermitteln und so bei vielen Problemen helfen. Zugleich macht sie uns auf kleine Fläschchen mit „Essenzen“ aufmerksam, die mit ebenfalls hochschwingenden, feinstofflichen Energien verschiedener Engel aufgeladen worden seien. Auf verschiedene
Körperstellen getropft verheißen sie Ruhe, Liebe, Freude, Stärke, Ausgeglichenheit u. a. m. An der Kassa liegen Werbefolder einer Energetikerin auf, die u. a. als „Medium“ individuelle Lebensratschläge eines Engelwesens vermittelt (bzw. „channelt“). Vieles davon ist kaum hinterfrag- und nachvollziehbar und erfordert ein hohes Maß an Vertrauen, denke ich mir. Und bei der Fülle an bisher Gesehenem (und den Preisen …) drängt sich eine weitere Zwischenüberschrift auf:
Engel verkaufen sich gut
Mir fällt auf, viele Engel, denen wir begegnet sind, haben sich „verselbstständigt“ und, wie Raffaels Putti aus dessen Gemälde „Sixtinische Madonna“, den kirchlichen Kontext verlassen.
Autor: Mag. Lambert Jaschke, Referent für Weltanschauungsfragen, Erstveröffentlichung in: »Engel«, Jahrbuch der Diözese Gurk 2024, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).