Brot und Rosen
Über-Lebens-Mittel für Menschen in Armut
Einen Korb voller Brot brachte Elisabeth die Stiegen hinunter. Heimlich. Es war ihr von mder Herr- schaft verboten worden, Leuten in sozialer Not Essen zu bringen. Sie trat in den Hof der Wartburg, blickte vorsichtig nach allen Seiten und wollte durch das Tor rasch ins Freie entschwinden. Da sprangen zwei Wachen aus der Dunkelheit hervor und hielten sie auf. Die Soldaten zwangen Elisabeth, das Tuch über dem Brot zu lüften, um zu kontrollieren, was die junge Frau da verdächtig mit sich trug. Doch der Korb war voller Rosen. Elisabeth durfte weitergehen. Das Brot kam zu denen, die es benötigten. Seit dieser Geschichte aus der mittelalterlichen Grafschaft Thüringen des 13. Jahrhunderts sind Brot und Rosen miteinander verbunden. In den USA organisierten sich vor 100 Jahren Näherinnen mit dem Ruf „Wir brauchen Brot, aber wir brauchen die Rosen dazu“. 20.000
Textilarbeiterinnen kämpften in Massachusetts für ein Einkommen, von dem sie und ihre Kinder auch leben konnten.
Mehr als Existenzsicherung
Brot steht für die existenziellen Lebensmittel, für Materielles, für Existenzsicherung, Einkommen, leistbares Wohnen, Arbeit. Die Rosen weisen auf die Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht – wie Anerkennung, Musik, Freundschaften oder Vertrauen. Um das geht es auch heute. Hunderttausende machen sich Sorgen um den Job, Hunderttausende kommen mit dem schlechten Lohn nicht über die Runden, Wohnen ist unleistbar, und das soziale Netz der Mindestsicherung wurde zerschnitten. Die Corona-Krise macht sichtbar, unter welchen Folgen Menschen am meisten leiden, wenn sie der Rosen beraubt sind: Einsamkeit, Schlafproblemen, Erschöpfung. Die Rosen machen die Welt lebendig.
Nicht vom Brot allein
„Ich könnte mir das nie leisten“, erzählt Kulturpassinhaberin Maria. „So konnte ich wenigstens meiner sozialen Isolation entgegenwirken.“ Der Kulturpass öffnet Musik, Theater, Kunst und Kultur für alle, die es sich gerade nicht leisten können. Vor zwanzig Jahren haben wir die Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“ initiiert. „Warum brauchen Leute, die eh nichts haben, einen Theaterbesuch, Tanz
oder Kino?“, wurde ich gefragt. „Da geht’s doch um Wohnung, Job und Einkommen.“ Schon, um das geht es jedenfalls. Aber: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er lebt auch von guten Beziehungen, tiefen Erfahrungen, Auseinandersetzungen oder Freundschaften. Kunst und Kultur können Überlebensmittel sein, die helfen, „den Atem nicht zu verlieren“, sagt Maria. Denn es geht darum, was Menschen haben – aber immer auch, was sie tun und sein können. Brot und Rosen.
Preissteigerung
Wir treffen uns im Sozialmarkt. Harald muss günstigst einkaufen, damit er über die Runden kommt. Die Teuerung spürt er an Haut und Knochen. Lebensmittel ziehen im Preis nach oben. Sein tägliches Brot ist keine Selbstverständlichkeit. Die Energiekosten würden im Zu-Hause- Modus der Coronazeit an sich schon in die Höhe gehen, hätte die Inflation nicht noch ein Schäuferl draufgelegt. Die Mieten sind seit Jahren ein Problem für mittlere Einkommen. Harald kann von einem mittleren Einkommen aber nur träumen, er muss zurzeit zwischen Niedriglohnjob und Mindestsicherung pendeln. Viel Arbeit, wenig Geld, viel Stress, wenig Spielraum. Die kleinen Preissteigerungen
haben die Befragten schon vor über einem Jahr bemerkt. Was ausschließlich Einkommensschwache aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, vor allem Obst und Gemüse, aber auch Brot. Armutsbetroffene weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft
schon kleine Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Unterschied zwischen Hungern und Fasten
Sie sind eine so verletzliche Gruppe, da kann jeder Euro mehr, den man ausgeben muss, für eine Existenzkrise sorgen. Sie sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen. Es zahlt sich also aus hinzuhören, was Menschen wie Harald über das tägliche Brot erzählen – für uns alle. Es gibt die freiwillig gewählte Armut, wie sie zum Beispiel von Mönchen oder Asketen praktiziert wird. Freiwillig gewählte Armut braucht einen Status, der den Verzicht zur Entscheidung erhebt. Fasten ist nur dann
Fasten, wenn die Möglichkeit, etwas zu essen, offensteht, sonst sind wir beim Hungern. Der Zustand der Unterernährung mag der gleiche sein, aber die Möglichkeiten, die die Personen haben, unterscheiden sich. Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit.
Einkaufen als Zwang
Wenn es eng wird, dann gibt es nur einen Posten, der verfügbar ist: Essen. Sparen geht nur dort, am täglichen Brot. „Dann hat es nur mehr irgendwas gegeben“, erzählt Maria. Jetzt geht es ihr und
ihren drei Kindern wieder besser, rückblickend sagt sie: „Das Essen macht jetzt wieder Freude, kann wieder etwas Schönes sein, nicht nur kraftraubender Stress zwischen Arbeit und Schlafengehen.“ An das Einkaufengehen im Supermarkt denkt sie besonders ungern zurück. „Ich bin da blind durchgegangen, damit ich nur das Billigste und Notwendigste mitnehme.“ Einkaufen bedeutete „Zwang und schlechte Stimmung“. „Arm sein ist, sich durch dieses überfüllige Warenangebot
hindurchschwitzen zu müssen, wenn man einfach nur etwas einkaufen gehen will.“ Das hat meine Mama immer gesagt, erzählt Undine Zimmer in ihrem Buch „Nicht von schlechten Eltern“, einer Erinnerung an ihr Aufwachsen in einem Haushalt mit wenig Geld.
Mut und etwas Geld
„Es sich nicht leisten können, Freunde zum Essen einzuladen“, ist ein Indikator der Armutsmessung. Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Hier geht es nicht nur ums Geld, nicht nur darum, ob etwas im Kühlschrank ist, sondern vielmehr um die Scham, im Unglück sein Privatestes herzuzeigen. Um den Versuch, die Bedrohung des eigenen Ansehens abzuwehren. Um Selbstachtung. Deshalb ist die Erfahrung gemeinsamen Essens auf Augenhöhe eine so gute Sache. Ein Kind von Langzeitarbeitslosen zu sein kann viel bedeuten, erzählt Undine Zimmer. Am prägendsten seien vor allem die fehlenden Erfahrungen – wie ein Familienurlaub ist, wie gut ein Sonntagsessen schmecken kann und wie hilfreich in manchen Situationen spendable Verwandte sein können. „Am heftigsten vermisst man jemanden an seiner Seite, der einem jenes Grundvertrauen einflößt, das andere schon mit der Muttermilch eingesogen haben“, erinnert sich Undine. „Denn auch Chancen brauchen Mut und meist auch etwas Geld.“ Brot und Rosen. Elisabeth bedeckt den Korb voller Rosen mit ihrem Tuch und geht weiter. Das Brot wird ankommen – bei denen, die es brauchen. |
Autor: Mag. Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich, Erstveröffentlichung in: »Unser tägliches Brot«, Jahrbuch der Diözese Gurk 2023, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).