„Wer nicht heiß und inbrünstig gebetet hat…“
Wie das flehentliche Gebet den Glauben neu anfacht
von Prof. Dr. Gerhard Lohfink
Trotz aller Säkularisierung wird noch immer viel gebetet. Die Frage ist nur, ob richtig gebetet wird. Aus ganzem Herzen, als Notschrei zu Gott, in der Gewissheit, dass Gott jedes Gebet erhört? Gibt es da nicht eine Aufgeklärtheit, die das Bittgebet zwar akzeptiert, es aber zugleich unterwandert? Eine Aufgeklärtheit, die das Bittgebet lediglich als eine Art Bewusstseinsveränderung betrachtet? Man könnte diese Haltung so umschreiben: Was hilft Beten, wenn man nichts tut? Wir müssen etwas tun. Und dazu müssen wir wissen, was wir tun sollen. Im Bittgebet schärft Gott unser Bewusstsein, damit wir erkennen, was der Wille Gottes ist, und das Richtige tun. Also: Bittgebet als Bewusstseinsveränderung auf den Willen Gottes hin, damit wir selber aktiv werden!
Beten als Notruf
Falsch ist das nicht. Selbstverständlich muss unser Beten zum Handeln führen. Es ist nicht dazu da, alles auf Gott abzuschieben. Selbstverständlich müssen wir ständig unser Bewusstsein durch Gottes Heiligen Geist verändern lassen,und das geschieht auch im Bittgebet. Aber ist die Bewusstseinsveränderungdas Erste und das Zentrale beim Bittgebet? Wenn es sich so verhielte, wären unsere Bitten in erster Linie Belehrungen an die eigene Adresse. Zum Wesen des Bittgebetes gehört aber, dass es immer auch dringender Hilferuf ist, ja Schreien zu Gott, Notruf, Bitte um Errettung. Wenn dem nicht so wäre, würde unser Gebet unmenschlich. Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er andere um Hilfe bittet, wenn er in Not ist. Dass er um Rettung schreit, wenn er in Gefahr ist und sich selbst nicht helfen kann. Zumindest der seelisch gesunde Mensch tut das. Ich habe es erlebt im Krieg, in der Großstadt, im gemeinsamen Luftschutzkeller, als die Bombenteppiche immer näher kamen und das Haus anfing zu zittern, der Mörtel von der Decke rieselte und die Detonationen immer lauter wurden – wie dann die Nachbarn, die nie in die Kirche gingen, weil sie dezidierte Nazis oder schon lange von der Kirche Abständige waren, anfingen, laut zu beten.
Ansprechbarkeit Gottes im „Du“
Aber lassen wir solche Extremsituationen: Es gehört einfach zum Menschsein, dass man andere bittet, wenn man dringend etwas braucht. Wenn wir etwas, das in der Beziehung zu anderen Menschen selbstverständlich ist, vor Gott nicht tun könnten, wäre unser Verhältnis zu Gott in einer unerträglichen Weise eingeengt und entscheidender personaler Züge beraubt. Man muss sich vor Augen halten, was es auf die Dauer bedeutet, wenn man in seiner Not nicht mehr zu Gott ruft. Denn in kaum einer anderen Gebetssituation wird das Gegenüber Gottes, wird die Ansprechbarkeit Gottes im „Du“ so elementar vollzogen wie im Bittgebet. Wahrscheinlich bleibt Gott gar nicht mehr der lebendige Gott der jüdischen und christlichen Glaubensgeschichte, wenn wir ihn nicht anflehen. Unser Glaube stirbt ab, wenn wir nicht wie ein Kind den himmlischen Vater um seine Gaben bitten.
Die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen
Es gibt noch ein anderes Argument aus dem Geist der europäischen Aufklärung, das unser flehentliches Gebet hemmt: Kann ich Gott umstimmen durch mein Gebet? Soll er um meinetwillen den Lauf der Welt ändern, den er doch in seiner Weisheit und Voraussicht festgelegt hat? Ist es nicht Anmaßung, das Handeln Gottes in eine andere Richtung lenken zu wollen? Nun ist es freilich mit dem „Lauf der Welt“ so eine Sache. Ist das ein unabänderliches Schicksal, festgelegt bis ins Kleinste und zementiert bis in alle Ewigkeit? Oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um die Geschichte zweier Freiheiten: der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen? Geht es nicht darum, dass diese beiden Freiheiten unablässig kommunizieren und miteinander ringen? Ein Ringen Gottes um die Einsicht des Menschen und ein Ringen des Menschen um das Erbarmen Gottes?
Jesus am Ölberg
Man könnte noch vieles fragen und noch vieles antworten. Bei der Frage nach dem Sinn des Bittgebetes gibt es allerdings ein letztes, unumstöß liches Kriterium: Jesus selbst hat gebetet. Er hat, wie der Hebräerbrief sagt, Gott „in denTagen seines Erdenlebens Gebete und Bitten dargebracht, mit lautem Geschrei und unter Tränen“ (Hebr 5,7). Jesus hat mit seiner ganzen Existenz gebetet. Er hat am Ölberg flehentlich darum gebetet, dass er nicht von seinen Gegnern umgebracht würde. Allerdings hat er hinzugefügt: „Aber nicht mein Wille geschehe …“ Also dürfen auch wir so beten. Jesus hat nämlich mehr über den Menschen und über Gott gewusst als wir. Die große österreichische Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916) notierte, als sie schon alt geworden war, die folgenden Sätze: „Ich habe kleine Wahrzeichen, an denen ich die Menschen zu erkennen glaube. So zum Beispiel bilde ich mir ein, dass, wer nicht heiß und inbrünstig gebetet hat, wenn auch nur ganz kurz, in einem großen, schwerwiegenden, nie vergessenen Augenblick höchster, schmerzlichster Not oder höchster Glückseligkeit, immer etwas Ungelöstes in seiner Seele behält, eine unerschlossene Knospe, einen unbefruchteten Keim. Er kennt den höchsten Aufschrei des Menschenherzens nicht – das unwillkürlich herausgestoßene Gebet. Er wird unzugänglich sein für alles, was sich der Herrschaft des Verstandes entzieht, er wird kein Versteher sein, wenn auch klug, gut und hilfreich seiner Absicht nach. Im schönsten Fluss unsrer liebsten und besten Gedanken werden wir bei ihm plötzlich wie auf eine Eisscholle stoßen. Es hat sich in ihm nie das schönste Wunder begeben.“
Autor: Prof. Dr. Gerhard Lohfink ( bis 1986 Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen, arbeitet als Theologe in der Katholischen Integrierten Gemeinde (KIG) in Baierbrunn/Bayern)
Erstveröffentlichung in: "Beten - Atemholen der Seele", Jahrbuch der Diözese Gurk 2015, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).