In Gespräch mit Gott
Warum Beten Heimat schenkt
von Diözesanbischof Dr. Alois Schwarz
An manchen Tagen liegen über der Landschaft ein Wolkenspiel und ein Schweben des Morgendunstes. Ein wunderbares Schauspiel der Natur im Beatmen des Waldes und des Ausatmens der Täler im Lichtspiel der aufgehenden Sonne. Immer wieder denke ich bei einem solchen Anblick an den Atem Gottes, der seiner Welt im Morgenlicht Leben einhaucht. Plötzlich bin ich dann mitten in einem Gespräch mit dem Schöpfer des Lebens und spüre meinen Atem als sein Geschenk und sage leise vor mich hin: „Ein wunderbarer Tag, von dir, Gott, mir geschenkt. Mein Leben verkünde dein Lob.“
Beten ist Atemholen der Seele, wie es im Titel dieses Jahrbuches heißt. Ich gehe gerne im Rhythmus des Jesus-Gebetes mit den Worten „Herr, Jesus Christus, erbarme dich meiner“. Dabei wird der Atem ruhig, und das Tempo der Schritte stellt sich auf den Herzschlag der Schrittlänge ein. Damit wird deutlich, wie das Gebet zur inneren Dynamik der Seele gehört und den Tag durchdringt mit der Erfahrung der Nähe Gottes.
Vaterunser als Grundgebet
Gott ist der stille Gesprächspartner in den verschiedenen Ereignissen eines Tages. Damit ich auf das Beten nicht vergesse, hat mich meine Mutter oft beim Weggehen von zu Hause gefragt, ob ich den Rosenkranz bei mir habe. So ist es mir eine gute Gewohnheit geworden, in meinen Taschen nach dem Rosenkranz zu greifen. In herausfordernden Situationen halte ich mich innerlich an dieser Perlenkette an und bete im Stillen einige „Gegrüßet seist du, Maria“. Dankbar bin ich, dass uns Jesus ein Gebet gelehrt hat, das uns in den wichtigen Lebenssituationen eine Wegweisung zum Leben und Überleben ist. Es verleiht den Nöten eine Stimme. Das Vaterunser ist das Grundgebet christlicher Gottesbeziehung. Ich entdecke es in seiner Bedeutung und in seiner inneren Fülle immer wieder neu und bete es für die Menschen in all ihren Anliegen – und mit Menschen in konkreten Leid- und Notsituationen.
Kraft schöpfen
Freilich gibt es für mich auch das Beten der Psalmen und der wunderbaren Hymnen der Tagzeitenliturgie. Diese alten Texte schenken Heimat, wie Gerhard Lohfink sagt. Er verdeutlicht dies so: „Auf jeden Fall öffnen sie gewaltige Räume. Räume in die Vergangenheit und in die Zukunft, Räume des Zorns und des Friedens, der Trauer und der Freude, des Leids und des Trostes. Sie umfassen die gesamte Weite der menschlichen Existenz“ (Beten schenkt Heimat. Freiburg 2010, S. 177). Beim Beten der Psalmen beten wir wie viele in Israel, wie Jesus gebetet hat und die Frauen und Männer der jungen Kirche in Jerusalem. Wir schöpfen Kraft, weil wir beim Beten der Psalmen von Gott behütet unterwegs und – um es mit den Worten von Lohfink zu sagen – „schon in der Heimat angekommen“ sind. Zu den Gebeten, die mich am meisten berühren und auch innerlich herausfordern, gehören die Gebete der Liturgie, insbesondere das Hochgebet in der Heiligen Messe. Das bewegt mich immer wieder so sehr, als ob ich es zum ersten Mal sprechen würde. Es ist tief berührend, wenn ich die Worte „Er nahm das Brot und sagte Dank…“ sprechen darf. Dieser Dank an Gott für das Lebensopfer Jesu und das Herabrufen des Heiligen Geistes führt nicht nur zur Verwandlung der Gaben, sondern ist auch Bitte um Wandlung der versammelten Gemeinde in den Leib Christi. Das Beten des Hochgebetes ist für mich die Herausforderung, danach zu fragen: Wer ist der Jesus, von dem wir hier sprechen für mich? Ist er einer, in dessen Freundschaft ich lebe? „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage“ (Joh 15,14), so sagte er nach der Fußwaschung zu seinen Jüngern.
Persönliches Reden mit Gott
Beten führt in die Freundschaft mit Jesus und ist ein Gespräch mit dem, der uns liebt. Sein Gebet war eine einzige Bitte um die Einheit der Menschen: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21). Beten heißt, „in Christus sein“ und das Herz Gott schenken. In einem alten Hymnus heißt es: „Christus, an dir halt ich fest mit der ganzen Kraft meiner Seele: dich Herr lieb ich allein – suche dich, folge dir nach“ (Alphanus von Salerno,+ 1085, Stundenbuch). Beten ist also beides: das liturgische Sprechen im Gottesdienst und das persönliche Reden mit Gott, das sich ganz subjektiv ausdrücken kann. Was Beten noch alles ist, lesen Sie, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, in diesem Jahrbuch. Dankbar für dieses Thema und die originellen Beiträge wünsche ich mir, dass wir noch mehr ein Wort aus unserem Leitbildprozess (siehe dazu auch „Aus der Diözese“, S. 120) verwirklichen: „Wir wollen so miteinander beten, dass auch andere Menschen mit uns beten und mit Gott sprechen wollen.“
Autor: Diözesanbischof Dr. Alois Schwarz
Erstveröffentlichung in: "Beten - Atemholen der Seele", Jahrbuch der Diözese Gurk 2015, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).