Zur Ehre der Altäre erhoben
Liturgische Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart
von Univ.-Prof. Dr. Stefan Kopp
„Santo subito!“ Dieser Ruf wurde nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. im Jahre 2005 besonders schnell laut. Damit forderten viele Gläubige seine unmittelbare Kanonisation, also die kirchliche Anerkennung als Heiligen. Zudem – das scheint noch grundlegender – kam damit zum Ausdruck, dass er für viele „im Ruf der Heiligkeit“ verstorben war, wie oft in alten Heiligenbiographien zu lesen ist. Das heißt, viele Menschen sahen ihn zum Zeitpunkt seines Todes bereits als einen Heiligen an.
Zur Kanonisation der Heiligen. Im ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte war die Verehrung durch das Volk nicht nur die Voraussetzung der offiziellen kirchlichen Anerkennung als Heiligen, sondern selbst schon ein wesentlicher Teil davon. Der missverständliche oder zumindest erklärungsbedürftige deutschsprachige Be-griff „Heiligsprechung“ bestand nun darin, dass der verstorbene Diener Gottes „zur Ehre der Altäre erhoben“ wurde. Bis ins 12. Jahrhundert entschieden Ortsbischöfe oder Partikularsynoden, ob es eine offizielle kultische Verehrung des Verstorbenen geben konnte. Dieser Akt der öffentlichen Verehrung erfolgte vor allem durch die Feier der Eucharistie zu seinem Gedächtnis. Dies bringt auch die Bestattung von Heiligenreliquien im Altar oder unter dem Altar zum Ausdruck. Die Kanonisation des hl. Bischofs Ulrich von Augsburg (um 890–973) im Jahre 993 gilt als erste Heiligsprechung durch den Papst. Im 12. Jahrhundert verfügte Papst Alexander III., dass dieses Recht ausschließlich beim Bischof von Rom liege. Seligsprechungen wurden zunächst weiterhin von den Ortsbischöfen vorgenommen und erlaubten die Verehrung in einzelnen Diözesen, Regionen oder Ordensgemeinschaften. Auf diese mittelalterliche Praxis geht die bis heute geltende begriffliche Unterscheidung von Selig-und Heiligsprechungen zurück, auch wenn rechtlich heute beides dem Papst vorbehalten ist.
Zur geschichtlichen Basis der liturgischen Heiligenverehrung. Die historischen Wurzeln der liturgischen Heiligenverehrung gehen auf den Brauch der nichtchristlichen Antike zurück, ein Gedächtnismahl am Grab des Verstorbenen zu halten. Daraus entstand die Praxis der frühen Christen, an den Gräbern das Herrenmahl zu feiern. Schon unabhängig von der Verortung des liturgischen Gedächtnisses am Grab war die Bitte der hl. Monika († 387), die sterbend zu ihrem Sohn Augustinus sagte: „Begrabt diesen Leib irgendwo, macht euch keine Sorge um ihn; nur darum bitte ich: Wo immer ihr seid, denkt an mich am Altar Gottes!" Dieses Wort ist in den „Bekenntnissen“ des hl. Kirchenlehrers Augustinus überliefert und bis heute im Stundengebet Bestandteil der zweiten Lesung der Lese-hore am Gedenktag der hl. Monika am 27. August. Aus diesem allgemeinen Gedächtnis der Verstorbenen entwickelte sich ein spezielles Gedächtnis der Märtyrer. Schon früh kam ihnen hohe Anerkennung innerhalb der christlichen Gemeinden zu. Ihr Todestag wurde als Geburtstag für das neue, ewige Leben bei Gott gedeutet.
Gedenktage. Ab dem dritten Jahrhundert wurden dazu noch Bekenner (confessores) und Jungfrauen zu den verehrungswürdigen Heiligen gezählt. Nach dem Ende der Verfolgungszeit erlangte der Heiligkeitstyp der Asketen und Jungfrauen als „unblutige Märtyrer“ eine besondere Bedeutung und erfuhr als „engelsgleiches Leben“ hohe Wertschätzung. Eine weitere Gruppe von Heiligen waren die Witwen, die nicht nur einen eigenen Stand bildeten, sondern häufig auch im Ruf der Heiligkeit standen, während auffallenderweise (bis in die Gegenwart) kaum heilige Mütter und Ehefrauen zur Ehre der Altäre erhoben wurden. Seit dem vierten Jahrhundert gab es auch Gedenktage biblischer Heiliger und der Engel, im Osten auch Gedenktage alttestamentlicher Heiliger. Ebenfalls in die Gruppe biblischer Heiliger gehören die frühesten bekannten Marienfeste, für die vor allem das Konzil von Ephesus 431 ein wichtiger Impuls war. Erst im Frühmittelalter wurden auch alle Apostel als Märtyrer verstanden und liturgisch verehrt.
Zum Allerheiligenfest und zum Gedächtnis aller Verstorbenen. Neben besonderen Tagen, die in den Kalendarien früh bestimmten Heiligengestalten zugeordnet wurden, beging man schon ab dem vierten Jahrhundert einen Tag im Umkreis von Ostern als Gedächtnistag aller Märtyrer, aus dem im Mittelalter das heutige Allerheiligenfest am 1. November wurde. Dabei kommen in der Liturgie nicht nur alle kanonisierten Heiligen in den Blick, sondern auch „unsere Brüder und Schwestern, die schon zur Vollendung gelangt sind“, wie die Eigenpräfation dieses Festes deutlich macht. Am darauffolgenden Allerseelentag gedenkt die Kirche aller Verstorbenen, die noch nicht zu dieser Vollendung in Gott gelangt sind. Abt Odilo von Cluny führte das festliche Gedächtnis aller Verstorbenen am 2. November 998 für alle ihm unterstellten Klöster ein, von wo aus sich das Fest allmählich über die gesamte abendländische Kirche verbreitete. Einen wichtigen liturgischen Ausdruck des Heiligengedächtnisses stellt auch die Allerheiligenlitanei dar. Ursprünglich auf alte Kyrie-Litaneien der Ostkirchen zurückgehend, ist sie die älteste Litanei der römischen Kirche und wurde bis heute vielfach mit verschiedenen Heiligengestalten verändert und angereichert. Das neue Gotteslob (GL) für die (Erz-)Diözesen Österreichs kennt neben der klassischen Allerheiligenlitanei (GL 556) im Eigenteil auch eine „Litanei von den Heiligen und Seligen Österreichs“ (GL 974) als ortskirchliche Konkretion der universalkirchlichen Heiligenverehrung in der Liturgie. Eine Besonderheit dieser Litanei ist die Anrufung der Heiligen nicht nur mit ihren Namen, sondern auch mit ihrer Bedeutung für die Kirche in Österreich. So wird etwa der hl. Modestus als „Apostel von Kärnten“ oder die hl. Hemma als „Landesmutter und Schutzfrau Kärntens“ angesprochen. Die „Litanei von den Heiligen und Seligen Österreichs“ eignet sich besonders für gottesdienstliche Feiern mit primär ortskirchlicher Bedeutung wie Bittprozessionen. Zudem finden sich im Gotteslob zahlreiche Heiligenlieder, -andachten und -gebete, darunter beispielsweise ein Hemma-Gebet (GL 701,2), das von Papst Johannes Paul II. 1988 am Grab der hl. Hemma in Gurk gebetet wurde.
Zur Theologie der Heiligenverehrung im Herrenjahr. Heiligkeit ist zuerst und zutiefst ein Prädikat Gottes. Er ist „der Quell aller Heiligkeit“, wie es im Zweiten Hochgebet heißt. Von daher ist die Heiligkeit der Heiligen nicht etwas in sich Stehendes, sondern Heilige sind Menschen, in denen Gottes Heiligkeit sichtbar wird und die Heiligkeit ihrer Berufung gemäß gelebt haben. Die Heiligen werden in der Liturgie als Vorbilder, Fürsprecher und schon vollendete Erlöste angesprochen. Ihr (liturgisches) Gedenken fügt sich vor diesem Hintergrund in das Herrenjahr ein und prägt es mit, ist aber theologisch sekundär. Das liturgische Jahr orientiert sich am Sonntag sowie am österlichen und weihnachtlichen Festkreis und hat seine Mitte im Paschamysterium. In diesem Sinne betont die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium (SC) des Zweiten Vatikanischen Konzils die liturgische Hierarchie des Kirchenjahres und formuliert: „Die Feste der Heiligen sollen nicht das Übergewicht haben gegenüber den Festen, welche die eigentlichen Heilsmysterien begehen. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen möge der Feier in den einzelnen Teilkirchen, Nationen oder Ordensgemeinschaften überlassen bleiben, und nur jene sollen auf die ganze Kirche ausgedehnt werden, die das Gedächtnis solcher Heiligen feiern, die wirklich von allgemeiner Bedeutung sind.“ (SC 111)
Zur Heiligenverehrung in der Volksfrömmigkeit. Dieser Anspruch einer angemessenen Gewichtung der Bedeutung von Heiligen im (liturgischen) Leben der Kirche in Hinordnung auf das Christusereignis gilt auch für alle Formen der Volksfrömmigkeit. Sowohl für das Alltagsleben als auch für individuelle und kollektive Frömmigkeitsformen spielten Heilige seit dem Mittelalter eine wichtige Rolle. Tage wurden – im ländlichen Bereich zum Teil noch bis ins 20. Jahrhundert – nicht mit ihren Daten, sondern mit ihrem jeweiligen Heiligengedächtnis bezeichnet, und Bauernweisheiten sowie Wetterregeln orientierten sich nach Heiligengedenktagen bzw. -festen.
Gott als Spender aller Gnaden. Das persönliche Verhältnis zu den Heiligen zeigt sich bis heute u. a. im Patronatsgedanken bei Kirchweihe und Taufe, aber auch für bestimmte (Berufs-)Gruppen. Ein starker Ausdruck persönlicher Heiligenfrömmigkeit ist mitunter auch die Wahl des Namens, der – in manchen Gebieten Österreichs zum Teil noch heute – vom Ortsheiligen oder von der Nähe des Geburts¬tags zum Namenstag beeinflusst wird. Die hohe Wertschätzung von Namenspatronen zeigt sich zudem in der ebenfalls teilweise bis heute bestehenden Praxis, die Feier der Namenstage wichtiger zu nehmen als die Feier der Geburtstage. Bleibt bei allen Formen der Heiligenverehrung der Unterschied zwischen der Mittlerschaft Christi und der Mittlerschaft der Heiligen sowie das klare Bewusstsein, dass nicht die Heiligen Spender der Gnaden sind, sondern allein Gott, dann kann der Blick auf die Heiligen eine fruchtbare Unterstützung für den Glauben sein und das liturgische Leben der Kirche in der Vielfalt unterschiedlicher Spiritualitäten bereichern.
Erstveröffentlichung in: "Heilige - Vorbilder, Fürsprecher und Reformer", Jahrbuch der Diözese Gurk 2018, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).