Einladung, anders zu sein
Heilige als Vorbilder
von Dr. Helga Kohler-Spiegel
Wenige Tage vor Allerheiligen erzählt die Religionslehrerin in einer dritten Volksschulklasse von den ersten christlichen Gemeinden. Sie erzählt von Paulus, seinen Briefen an die Gemeinden und von der Anrede, mit der Paulus die Christen ansprach: „Ihr Heilige von Korinth“, „Ihr Heilige von Rom“. Das ist heute ungewohnt, verbinden doch viele mit „heilig“ oft besonders fromm, besonders viel betend oder sich aufopfernd. Das Wort wurzelt im Hebräischen „getrennt, anders sein“ und meint „besonders sein“, „gesegnet sein“. Bei der jüdischen Hochzeit wird die Zeremonie des Ansteckens des Hochzeitsrings als „Heiligung“ bezeichnet, weil Braut und Bräutigam einander „etwas Besonderes“ sind. „Heilig“ erinnert daran, dass der Mensch, jeder Mensch, etwas Besonderes ist.
Botschaft und Einladung Jesu. Zurück zur Unterrichtssituation: Die Religionslehrerin erzählt den Kindern von Paulus und seiner Anrede an die Christen, und plötzlich sagt ein sehr verhaltenskreatives Kind: „Dann sind wir ja auch ,heilig‘!“ – und er fängt an, alle Kinder aufzuzählen: „heiliger Kevin, heiliger Rolf, heilige Sabine, heilige Dominique“ und so weiter. Als er nur noch sich selbst hätte nennen müssen, stockt er. Die Lehrerin unterstützt ihn und sagt: „Ja, auch du!“ – Der Bub zögert, bis er zaghaft versucht: „heiliger Frank“. Und dann immer wieder „heiliger Frank“, „heiliger Frank“. Der Unterricht geht weiter, die Kinder hören von der Botschaft und der Einladung Jesu, so zu leben wie er, ihm nachzufolgen und selbst „besonders“ zu sein, „anders“ zu sein. Die Zeit, in die Jesus hineingeboren wurde, war eine Krisenzeit, das Land war besetzt, der Tempel entweiht, es gab Gewalt und Willkür. Juden warteten darauf, dass der Messias endlich kommt, die Welt richtet und machtvoll verändert. Jesus hingegen bringt die Botschaft, dass Gott schon da ist in unserer Welt, wenn Menschen einander zugewandt sind, wenn Menschen einander stärken und füreinander sorgen.
An Jesu Maß nehmen. Jesus macht deutlich: Die Erde ist der Ort, wo der Himmel bereits erfahrbar ist, wenn Menschen so leben wie Jesus. Menschen können manchmal „den Himmel auf Erden haben“ oder es kann „die Hölle sein“. Im jüdischen und christlichen Glauben heißt der Name Gottes „Jahwe“, was übersetzt bedeutet: „Ich bin da“. In Jesus wird Gott sichtbar, Jesus hat sichtbar gemacht, dass Gott „da ist“. Christen sind eingeladen, wie Jesus zu leben und so das Gesicht der Welt zu verändern. In der Bergpredigt wird dies besonders deutlich, im Matthäusevangeliumkann man dies in Kapitel 5-7 gut nachlesen: „Selig seid ihr (…)“ Wenn Christen leben wie Jesus, dann sind sie vermutlich „anders“. Sie orientieren sich an Werten wie „Mitgefühl“, „Achtsamkeit“, „Nächstenliebe“, „Bewahrung der Schöpfung – Nachhaltig leben“. Vielleicht sind sie „besondere Menschen“. Paulus würde sagen: „Heilige“.
Vielfalt und Zumutung des Christlichen. Es ist nicht ganz einfach, so zu leben wie Jesus. Denn zum Christlichen gehört die Vielfalt und die Zumutung, selbst zu entscheiden, was im „Hier und Jetzt“, was in der einzelnen Situation zu tun richtig ist. Im Neuen Testament findet sich dazu im Lukasevangelium die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 25-37), und direkt im Anschluss folgt der Besuch Jesu bei Marta und Maria (Lk 10, 38-42). Diese beiden Stellen ge-hören zusammen: Einem Gesetzeslehrer, der durch intellektuelles Fragen und Reden sich davor schützen will, sich wirklich einzulassen, der zwar die Gebote kennt, aber nicht lebt, wird durch die Erzählung gesagt: „Handle nach den Weisungen Gottes! Mach dir die Hände schmutzig, schau hin, wo du gebraucht wirst, lass die Menschen neben dir nicht im Stich!“ In der folgenden Szene, wenn Jesus im Gespräch ist mit den beiden Schwestern Marta und Maria, hört Marta eine andere Ermutigung: „Genug gearbeitet, setz dich hin, gönn es dir, einfach da zu sein!“ Es ist nicht einfach, immer wieder neu zu entscheiden, was hier und jetzt, was in der jeweiligen Situation richtig ist, zu tun. Denn Glauben im Sinne Jesu heißt nicht zuerst, bestimmte Sätze zu glauben, sondern so zu leben, wie Jesus gelebt hat.
Kinder lernen an Vorbildern. Für Kinder ist es wichtig zu sehen und zu erleben, was den Erwachsenen wertvoll ist. Es gilt für Eltern und Lehrpersonen, darin „glaub-würdig“ zu sein. Der Religionspädagoge Fulbert Steffensky sagte: „Lehren heißt zeigen, dass man etwas liebt; zumindest heißt es zeigen, dass man etwas schön und menschenwürdig findet. Lehrer sein heißt also, sich vor jungen Menschen kenntlich zu machen. Es setzt Stolz auf die eigene Sache voraus.“ Erwachsene sind Vorbilder, sind Modelle für die Kinder und Jugendlichen, mehr in ihrem Tun als in ihren Worten. Haltungen werden also an Vorbildern, an Modellen gelernt, an konkreten Personen, an Menschen vor unserer Zeit und in unserer Zeit, die imponieren, die nachahmenswert erscheinen, die eine wichtige Haltung konsequent leben oder gelebt haben. Forschungen zeigen, dass dabei vor allem die nahen Vorbilder wichtig sind, also Eltern, Geschwister, Großeltern, Anverwandte, Lehr-und Erziehungspersonen, Freundinnen und Freunde. Von ihnen und mit ihnen zusammen lernen Kinder und Jugendliche, wie das Leben funktioniert und wie sie leben können. Von Karl Valentin stammt der Spruch: „Kinder muss man nicht erziehen – sie machen einem sowieso alles nach.“
Brüche im Leben von Heiligen. So können Heilige der Region oder des Jahreskreises, bekannte und weniger bekannte Heilige ebenso wie alle „besonderen Menschen“ Vorbilder sein, indem ihr Lebensweg, ihre Erfahrungen und ihre Entscheidungen erzählt werden. Im Erwachsenenalter kann ich überlegen, wer für mich in Kindertagen ein „besonderer Mensch“ war, wer für mich wichtig war, ein Vorbild. Mit Kindern kann überlegt werden, wer für sie ein Vorbild ist, an wem sie sich orientieren, bei wem sie Halt, Zuwendung, Sicherheit und Rat finden. Ich kann die Biographien der bekannten Heiligen nachlesen. Sehr viel Information, Geschichten und Bilder finden sich auf der Website www.heiligenlexikon.de. Und: Die Geschich-ten der „besonderen Menschen“ sind selten geradlinig, „Heilige“ früher und all die „besonderen Menschen heute“ wissen um die Herausforderungen und die Brüche im Leben. Meist mussten sie erleben, wie vielfältig das Leben sein kann, wie fordernd und wie schön, ohne zu vergessen, dass die Zusage Gottes lautet: Jeder Mensch, du und ich, ist „heilig“, ist „etwas Besonderes“.
Erstveröffentlichung in: "Heilige - Vorbilder, Fürsprecher und Reformer", Jahrbuch der Diözese Gurk 2018, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).