Die Kanzel
Wie ein Hochsitz oder eine Aussichtswarte thront die barocke Kanzel aus dem 18. Jahrhundert über dem Kirchenraum. Und tatsächlich hat der Prediger, wenn er von dort oben aus spricht, gewissermaßen jede Gläubige und jeden Gläubigen im Blick. Was aber noch bemerkenswerter ist: es braucht keine technischen Hilfsmittel, kein Mikrophon und keine Verstärkeranlage, damit man seine Worte bis in den letzten Winkel der Kirche mühelos versteht.
Das war auch der tiefere Sinn dieser merkwürdigen Gebilde, die sich im Lauf der Jahrhunderte aus den einfachen Lesepulten der Frühzeit in den christlichen Gotteshäusern entwickelt haben. Unter geschickter Ausnutzung der akustischen Kenntnisse der jeweiligen Zeit hat man die Kanzeln so konstruiert, dass man von dort ausgiebige Predigten halten konnte, von Art und Inhalt für heutige Verhältnisse kaum noch vorstellbar. So gab es eigene Predigtgottesdienste, bei denen der Priester eine Stunde und länger sprach, und hunderte, ja bisweilen tausende Menschen strömten zusammen, wenn ein berühmter Prediger angekündigt war.
Heute sind die Kanzeln weitgehend „außer Betrieb“ genommen. Man empfindet es als unangemessen, wenn die Gläubigen quasi von oben herab angesprochen, sprichwörtlich „abgekanzelt“ werden. In St. Egid wird die Predigt von der Kanzel nur noch bei der Heilighauptandacht als besondere Tradition bewahrt. Doch wenn die Kanzeln heute auch meistens verstummt sind, laden sie als Kunstwerke dennoch zur Betrachtung ein und können uns so vielleicht helfen, Gott im Wort der heiligen Schrift und in der Predigt zu begegnen.
So umgeben auf der Kanzel in St. Egid, die zu den bedeutendsten des Landes zählt, die sogenannten vier lateinischen Kirchenväter den Kanzelkorb, in welchem der Prediger stehen würde. Der hl. Hieronymus, der hl. Ambrosius, der hl. Augustinus und der hl. Papst Gregor der Große stehen für die Tradition der kirchlichen Glaubenslehre. Bildlich gesprochen zeigen sie, dass der Prediger nicht seine Privatmeinung kundtut, sondern mit seinen Worten selbst in dieser Tradition steht und sie für das Heute interpretiert.
Zwischen diesen Gestalten der Geschichte sind in blassem Relief Szenen aus den Evangelien dargestellt. Können Sie welche identifizieren? Sie alle haben als gemeinsames Motiv die Barmherzigkeit Jesu mit den Sündern, ein zentrales Thema jeder christlichen Predigt. Die Tür, durch welche der Prediger die Kanzel betritt (und verlässt), zeigt - ebenfalls auf einem Relief - Jesus, den guten Hirten. Er ist die Leitgestalt, von der die Worte der Verkündigung ihren Ausgang nehmen und auf die sie hinauslaufen sollen.
Auf dem Kanzeldeckel, einem akustisch wichtigen Element, hier scheinbar wie schwerelos von Engeln in der Luft gehalten, kniet der hl. Johannes Nepomuk, ein Heiliger, der in der Barockzeit vor allem in den habsburgischen Ländern große Verehrung genoss. Er galt (und gilt) sozusagen als Vorbild des unerschrockenen Predigers, weil er auch die oberste weltliche Macht nicht fürchtete, sondern lieber in den Tod ging, als seine priesterlichen Pflichten zu verleugnen. Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass wir in einer Zeit und in einer Gesellschaft leben, in welcher die Verkündigung des Glaubens in Freiheit und ohne politische Einmischung von statten gehen kann. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es auch heute zahlreiche Staaten gibt, in denen Menschen ihr Leben riskieren, wenn sie in den Dienst des Wortes Gottes treten – sie sind auf unser Gebet und unsere Solidarität angewiesen.
„Macht euch keine Sorgen, wie und was ihr reden sollt. Denn es wird euch in jener Stunde eingegeben, was ihr sagen sollt. Nicht ihr werdet reden, sondern der Geist eures Vaters wird durch euch reden.“
(Mt 10,19f)