Der Arme-Seelen-Altar
“Leben wir ein gutes Leben?“ - „Werden wir einst, am Ende, mit dem, was uns geglückt ist und wo wir gescheitert sind, vor Gott bestehen?“ Diese großen Fragen nach dem ewigen Ziel unseres irdischen Lebens steigen in uns auf, wenn wir in der Kapelle der „Armen Seelen“ verweilen. Der Altar, vor dem wir stehen, konfrontiert uns etwa in Augenhöhe mit einem alten Bild, das auf den ersten Blick missverstanden werden könnte: Menschen, bis zur Hälfte in Flammen stehend, die Hände flehentlich nach oben gerichtet.
Was wir hier sehen, ist keine Darstellung der Höllenqualen. Es sind, so lehrt uns die kirchliche Tradition, jene Menschen, die sich in ihrem Leben durchaus aufrichtig um eine gute Beziehung zu Gott und zu ihren Mitmenschen bemüht haben – die aber im Augenblick des Todes begreifen, wie unvollkommen und bruchstückhaft dieses Bemühen zeit ihres Lebens in Wirklichkeit geblieben ist. Angesichts dieser Erkenntnis werden sie von tiefer Reue erfasst, die sie wie reinigendes Feuer umlodert.
Gott gibt solche Menschen nicht verloren. In seiner Liebe läutert er sie und nimmt sie dann nach einer Weile der Reinigung in die ewige Heimat auf. Denn die Erlösung im Kreuz Christi, auf die sie in ihrem Leben ja gehofft haben, soll ihnen nicht versagt bleiben. Diese göttliche Liebe wird im Zustand der Reinigung – wir nennen ihn mit einem alten Wort „Fegefeuer“ – ebenfalls als läuterndes Feuer erfahren. Es brennt die Schlacken aus und lässt das „edle Metall“ zum Vorschein kommen, wie es in den Psalmen einmal heißt.
Es ist also eine Botschaft der Hoffnung, die uns vermittelt wird: die göttliche Liebe ist stärker als unsere Verhärtungen und Unvollkommenheiten. Wenn wir nur ehrlich Ja gesagt haben zum Angebot der Erlösung, werden wir nach dem Tod das versprochene Heil in Gott erreichen.
Und dieses Geschenk der Erlösung wird auch dargestellt: wenn wir den Blick von den „armen Seelen“ erheben und auf Christus blicken, der im oberen Geschoß des Altars im Augenblick seines Todes am Kreuz hängt. „Es ist vollbracht“, scheint er uns zuzusprechen, und „es ist vollbracht“ lautet auch das Wort, das in den Herzen der Menschen widerhallt, die im Fegefeuer auf die Vollendung warten. In unserem Fall nicht so deutlich, gibt es Varianten des „Altars der armen Seelen“ in anderen Kirchen, wo man sieht, wie das kostbare Blut, das Christus vergießt, vom Kreuz herab in die Flammen des Fegefeuers fließt und sie gleichsam lindert und löscht.
Die Betrachtung der armen Seelen im Fegefeuer hat allerdings noch einen weiteren Aspekt. Wir, die wir noch auf dem Weg der irdischen Pilgerschaft sind, tragen die Erinnerung an viele Menschen im Herzen, die uns etwas bedeutet haben und die uns vorausgegangen sind. Wenn sie die ewige Vollendung „direkt“ erlangt haben, dürfen wir hoffen, dass sie für uns vor Gott als Fürsprecher stehen. Umgekehrt sind aber wir Lebenden eingeladen, sie mit Gebet und Opfern zu begleiten, wenn sie noch im Zustand der Läuterung verweilen. Denn selbst können sie den Taten ihres Lebens ja nichts mehr hinzufügen. Das ist der tiefere Sinn, wenn wir im Gedenken an die Toten sprechen:
„Herr, gib allen Verstorbenen die ewige Ruhe.
Das ewige Licht leuchte ihnen.
Herr, lass sie ruhen in Frieden. Amen“