Symposium 2. Teil
Unterstützt vom Robert Musil-Institut, vom Katholischen Akademikerverband und von der Gemeinde Stockenboi
- Fortsetzung Obernosterer:
Von Fischen, die starrer Augen auf den Tellern liegen, schaudert es den Kindern. Sie bringen keinen Bissen von der noch erkennbaren Tötungsszene hinunter. Deswegen hat die Fischverwertung das Filet zu quadrischen Stücken zerschnitten, denn so sehen sie nicht mehr nach Tötung, sondern nach Stadtarchitektur aus. Diese Rechteckigkeit schmeckt aber bald nach nichts mehr als nach Freitag und Warenhaus. Also ist die Fischverwertung dazu übergegangen, das Filet nach einem simplen Fischchenschema zu zerschneiden. Diese lustigen Tierchen erfreuen sich dann bei den Kindern großer Beliebtheit. Sie verhalten sich zum Fisch, aus dem sie geschnitten sind, in etwa so wie ein durch den Sprachapparat geformtes Kind sich zu sich selber verhält. Es ist aus dem Sprachapparat neu geboren.
Was die Sprache in sich aufnimmt, liefert sie früher oder später an den Verbrauch ab. So gesehen beginnt die Waldzerstörung mit dem Besingen und Preisen des Waldes. Dann, ins Regionalprogramm des Rundfunks niedergeholzt, ist der Urwald nicht mehr sicher vor dem,
was in der Natur des Wortes „Wald“ zu liegen scheint.
Seine steigende Wertschätzung zieht zuerst auf ästhetischem und naturphilosophischem Wege die ersten Naturbewunderer, dann auch Zuwege und Hütten nach sich. So mischt sich „in des Waldes stilles Weben“ bald etwas Aktuelles ein: das Knattern von Motorsägen und Rattern von Schubraupen. Der ausgeschobene Güterweg hebt die Waldqualität im Sinne des Waldbesitzers; ein Wald mit höherem Wirklichkeitsgrad kündigt sich an.
Dass Bezeichnungen und Namen in erster Linie dem Erfassen von Objekten dienen, will eine Miniatur aus meinem im Herbst herauskommenden Buch mit dem Titel“ Wolke mit Henkel“ zum Thema machen:
Bier mit Henkel
Bauer mit Henkel
Henne mit Henkel
Gebirge mit Henkel
Wolke mit Henkel
Seele mit Henkel
Gott mit Henkel
Die Aulandschaft östlich von Wien, belebt von Hirsch und Frosch, seltenen Pflanzen und tausenderlei Gefleuch und Gekreuch,, soll in Gigawatt umgesetzt werden. Zur Verschleierung der groß angelegten Lebensvernichtung will man an gut sichtbarer Stelle ein paar malerische Tümpel anlegen, in denen einige eigens herbeigeschaffte Lebewesen ein Schaudasein vorzuführen haben. Sie leben innerhalb gewisser Absprachen und zufolge bestimmter Auflagen, wie auch die Stromverbraucher hinter den Stromangeboten herleben, zu mehr Verbrauch animiert, wenn es zu viel an Strom gibt, zur Tugend der Sparsamkeit ermahnt, wenn er knapp wird.
Alle Texte und Zahlen zusammen machen es sich untereinander aus, was die Lehrer den Kindern als Wirklichkeit vorzustellen haben. Deshalb muss ein gründlicher Umweltschutz mit dem Schutz vor Digitalisierung beginnen. Einmal beim Rechnen angelangt, haben sich die Wirtschaftsleute noch immer als die besseren Rechner erwiesen als die Naturschützer. Ja, man kann behaupten: Die maximalen Rechner sind die maximalen Veröder. Überdies sind sie auch die besseren Redner, zumal sie von Grund auf grammatikalisch strukturiert sind.
Nach der Verseuchung des Rheins durch die Chemischen Werke von Basel wird es zu einer Existenzfrage für die Kantonsregierung, ob von einem „einem einmaligen Ereignis“ oder einer „Katastrophe“ gesprochen wird. Ein eigens für den Fall eingesetzter Sprecher soll den Rhein reinigen, indem er die Sache auf ein “einmaliges Ereignis“ hinredet.
Ich habe soeben die Diskussion über das Geschehene verfolgt. Schon während die einzelnen Diskutanten sich an ihre Plätze begaben, merkte ich an Frisur, Kleidung und Verhalten anderen gegenüber, ob es sich um einen Ereignis-Vertreter oder einen Katastrophentyp handelte…Wenn ich die verbale Diskussion aber trotzdem verfolgte, so nur ,weil ich studieren wollte, durch welches Gehaben, welche rhetorischen Kunstkniffe, Schlagworte und dergleichen hindurch sich das jeweils feststehende Wort Geltung zu verschaffen versuchte.
Salman Rushdies „Satanische Verse“ werden von den Koranjüngern als Beschmutzung der Schriften empfunden, auf denen ihre Existenz aufruht. Man wird verstehen, dass reflexartig der Wunsch nach Beseitigung des Beschmutzers , konsequenter Weise durch seine Auslöschung , aufkommt. Angesichts solcher Reinigungsversuche wird man aber auch einmal bedenken müssen, wie viele Ungläubige und Häretiker im Laufe der Geschichte beseitigt werden mussten, wie viel an nichtkonformem Verhalten auch im Alltag unterdrückt werden muss, damit den starr dastehenden Buchstaben Genüge getan wird und von ihrer Statik so viel an Sicherheit ausgeht, dass man leuchtenden Auges an die Auslöschung derer gehen kann, die gegen die maßgeblichen Texte verstoßen.
Dass die Schriften unentwegt nach Reinigung verlangen – von den Schriftgläubigen zum Ausdruck gebracht durch Waschungen, gegenüber den Abtrünnigen und Hexen vollzogen durch deren Verbrennung - fällt auch bei anderen auf Schriften beruhenden Systemen wie Nationalsozialismus und Kommunismus auf. An eifrigem Reinigungspersonal hat es nie gefehlt.
Ähnliches gilt auch für manches textorientierte Kleinimperium einzelner Schulen und Internate. Bezeichnend dafür ist, dass in ihrem Bereich die vom Individuum ausgehende Lebendigkeit meist als störend und schlechtes Verhalten behandelt wird. Dem allenthalben spürbaren Unbehagen rückt man unbeholfener Weise dadurch zu Leibe, dass man sich noch strikter an die Vorschriften hält. Den betroffenen Zöglingen und Schülern mag so ein Ordnungshüter bisweilen als böswillig erscheinen, er selber sieht sich, wenn er verbietet, verneint und bestraft, als Vertreter des Guten…
Worauf Säuberungen im Extremfall hinauslaufen, habe ich in einem Film über die NS-Zeit vorgeführt bekommen. Gezeigt wurde eine Hinrichtungszelle, weiß verfliest, sauber bis in alle Fugen, nirgend eine Verunreinigung, an der die Schmutzigkeit des hier Geschehenen zutage treten hätte können. So manche Hausfrau hätte eine Freude an der hier waltenden Reinlichkeit haben können. Nur eine kleine Einzelheit störte: der am Oberboden befestigte Haken.
Seither frage ich mich bei mancher der unangenehm sauberen Wohnungen: Wo ist da der Haken?
Es liegt im Werden und Vergehen begründet, dass ein Mensch niemals etwas Vollkommenes werden kann, denn fehlerlos kann nur ein Apparat sein, etwa ein auf Logik aufgebauter, exakt geregelter Sprachapparat. Die an ihrer Instabilität leidenden menschlichen Wesen suchen Zuflucht bei ihm. Bei allen Anwandlungen von Seiten ihrer Körper fragen sie zuerst, was davon der Apparat, der unbeirrbare, gebrauchen kann und was als für ihn unbrauchbar zu unterdrücken ist.
Immer genauer errät das Vegetative, was von ihm erwartet wird. Als etwas Lustiges fügt es sich in die Belustigungen der Faschingszeit ein, wie es sich vorher in die anberaumte Besinnlichkeit des Advents und die hoffnungsfrohen Tage um Neujahr gefügt hat…
Den schier ins Endlose gehenden Forderungen gegenüber bleibt natürlich jeder einiges schuldig. Aber Schuldgefühle sind gut für das System. Sie machen den Schuldigen kleinlaut, sodass er zufrieden sein muss, wenn die Obrigkeit Gnade vor Recht ergehen lässt.
Vor der letzten Deutschschularbeit in der Mittelschule ermuntert der Lehrer die Schüler, sich einmal ganz frei und persönlich zu äußern. Jetzt, wo sie allmählich erwachsen würden, dürften sie ohne Furcht aussprechen, was sie an Schule und Gesellschaft störe, was ihnen persönlich wichtig sei und was sie als Erwachsene anders , besser machen möchten.
Einen dieser Aufsätze, beurteilt mit “sehr gut“, halte ich in der Hand. Ziemlich große Worte wie Verantwortung, Aufgabe, Pflicht, Gewissen werden in die üblichen Zusammenhänge gebracht, wobei die Sätze so glatt über das hingleiten, was die Worte im Grunde meinen, dass nach dem Durchlesen des Aufsatzes der Eindruck bleibt, dass da einer in aller Routine die Lieblingsbegriffe des Lehrers in einen grammatikalisch einwandfreien Zusammenhang gebracht hat. Und so weht mir anstelle von Jugend, die ich mir erwartet habe, ein Hauch von EU- Reife entgegen.
Ein Kind, das ist etwas, was man eigentlich gar nicht mit einem Wort markieren dürfte, weil es zwischen Knabe und Mädchen, abseits von Beruf und Gesellschaft, jenseits des Gailtalerischen, vor allem Anständigen und nach allem Gegenteiligen existiert…
Wenn es später einmal Zuflucht zu gewissen naheliegenden Hauptwörtern nimmt und sich beispielsweise als Gailtaler Arbeitertochter versteht, so wird sie von den entsprechenden Begriffen nach den ihnen immanenten Gesichtspunkten weiterbefördert: in sieben Reifenröcke hinein und hinaus zu den Besoffenen.
Es wird einmal ein Land sein, in dem die Kinder früher als bei uns “Guten Tag. Wie geht’s?“ sagen, in dem sie es in mehreren Sprachen sagen lernen und schon mit zwölf so vernünftig sind wie unsere Jugendlichen es mit zwanzig noch nicht sind, wodurch erstere sich den Leerlauf der Kindheit und somanche Jugendtorheit ersparen. Sie werden von Anfang an wissen, worauf es ankommt, wozu sie leben und wie man es anstellt, etwas zu werden. Alle werden sich in den wichtigen Angelegenheiten eins sein und das Gleiche denken.
Ein Schikurs mit Dreizehnjährigen. Zwei davon haben etwas miteinander. Als ich sie verturtelt auf der Bettkante antreffe, erschrecke ich. Nicht auszudenken, wenn Mitschüler das zu Hause erzählen, denn zur Sprache gebracht, heißt das ja, dass sie „miteinander im Bett sind“. Ich muss sie also bitten, sich in den Aufenthaltsraum zu begeben.
Soll ich die drei Senegalesen, die in der Nebenwohnung eingezogen sind, nur so, ohne Bezug auf Toleranz und Humanität wie alle anderen Nachbarn behandeln oder mich gewisser Bibelstellen besinnend, es aus moralisch-religiösen Gründen heraus tun?
Das Wahrnehmen ist vor allem ein Nehmen, ein Nehmen zum Zweck des Nützens und Verwertens. Sowie etwas an sich Unbekanntes aus der Umgebung herausgegrenzt und benannt wird, hat der Mensch schon seine besitzergreifende Hand dran.
Dies beginnt im Falle eines Christen mit der Taufe, wo das wehrlose Würmchen mit einem Namen erfasst und in die laufenden Vorgänge einbezogen wird. Der Name fungiert dabei als Henkel. Wird am Säugling zum Beispiel der Henkel Franz angebracht, meint der später, er sei durch und durch ein Franz und verliert so aus den Augen,wie er abseits davon existiert..
Ansprachen von Bürgermeistern, Festreden von Vereinsobleuten, Predigten und dergleichen: In meinem Alter ist davon nicht mehr viel zu erwarten, was über das Geklingel der Vokale und die Geräusche der Konsonanten hinausreicht. Deshalb gibt es mir zu denken, dass die meisten Ansprachen doch mit Dankbarkeit und Beifall aufgenommen werden. Das merkwürdige Verlangen nach einer Rede des Bürgermeisters anlässlich der Einweihung des Feuerwehrhauses kann ich mir am ehesten dadurch erklären, dass die Versammelten es schätzen, dass die sie zermürbenden Fakten für eine Weile mit etwas Wohlklingendem zugedeckt werden.
Große Worte wie Liebe, Vertrauen, Treue, Sicherheit und dergleichen soll man nur ohne einengende Grenzen denken. In der Realität freilich ist Grenzenlosigkeit nicht möglich. Die Sicherheit zum Beispiel gibt es nur innerhalb eines von der Innenpolitik abgesteckten Rahmens und was Treue, Vertrauen und Liebe anlangt, würde jeder dieser Begriffe, in seiner unbegrenzten Form angewandt, die entsprechende Person überfordern und ihre organische Struktur zerstören.
Im Bemühen, inmitten der kreuz und quer gerichteten Kräfte den Kopf über Wasser zu halten, hat der homunculus einen auf das Praktische zurechtgestutzten wirtschaftlich vertretbaren Ersatz für die Originale geschaffen, die entsprechenden Generika: Liebes-Generica, Vertrauens-Generika, Treue-Generika und so weiter.
(Die folgenden Kurztexte sind verschiedenen meiner Bücher entnommen.)
Was am Anfang war
Wurde zugedeckt durch das Wort,
weshalb die Wortgläubigen meinen,
am Anfang sei das Wort gewesen.
Sie sehen freilich nur bis zum Anfang des Wörtlichen.
Immerhin ist durch das Wort
Einfachheit und Verstehbarkeit in die Welt gekommen,
ein tragender Boden.
Weil der so menschengerecht und brauchbar ist,
hält man ihn auch für wahr.
Ich werde mitgeweht mit der Wolke aus Worten,
durch deren Buchstabengewimmel hindurch
ich kaum noch auf den Boden sehe.
Im Sinne der herrschenden Ideologie ist nur die Abweichung von ihr als Ideologie zu brandmarken.
Formulare sind Partituren der Unterwerfung
Das gesprächig Leutselige bildet eine schützende Haut über dem blutigen Körper der Tatsachen.
Wenn man etwas von „politischer Verantwortung liest, lässt man am besten die Silbe“ant“ aus, und die Sache wird klarer, denn es heißt dann „politische Verwortung“.
Etwas zur Sprache bringen heißt, es durch sie ersetzen.
Indem man eine Freundschaft beredet, also ins Wort hebt, schwächt man sie ab.
Im Verhältnis zu dem, was vorher war, ist jedes Wort eine Frohbotschaft.
Die selbstherrlich gewordenen Apparate fürchten nichts mehr als das Geistige, vor dem sie eben nur Apparate und nicht das Universum sind.
Ein schönes Abschlusszeugnis gehört bei den vierzehnjährigen Mädchen bereits in dieselbe Ebene wie Nagellack und Haartönung.
Es ist in die Beschränktheit inbegriffen, dass man sich ihrer nicht bewusst ist.
Es müsste den Leuten doch zu denken geben, dass man lieber dem Plaudern eines Bächleins lauscht als dem Ihren.
Was sich in das Wort „Natur“ hineingeschwindelt hat, ist erst durch die Wortwerdung so einfach geworden.
Ich treib die Maus/ leicht aus dem Haus/ mit dem einfachen Trick/ dass in die Sprach ich sie entrück./ Dort gelingt im Fall des Falles/ mir so ziemlich alles.
So manchem Buch merkt man an, dass es einmal etwas war, bevor es geschrieben worden ist.
Ein bisschen weniger reden, ein bisschen langsamer schauen und du hast wieder ein ganzes Land für dich allein
Ende
- DO 8 Uhr: Vera Eßl - Die Gnade des Wortes
- DO 20 Uhr: Franz Supersberger: Gebet - Worte der Not
GEBET, Worte der Not
Franz Supersberger
Gebet:Corona
Das Laufhaus in Hohenthurn im Bezirk Villach könnte das Trojanische Pferd sein, mit dem sich das Corona-Virus, welches in Oberitalien wütet, in Kärnten einschleichen könnte. Dieses wird hauptsächlich von Italienern frequentiert, bis zu zweihundert Freier an einem Wochenende. Auf die Gefahr, welche vom Bordell ausgeht, hat der Gebetskreis im Dreiländereck schon lange hingewiesen. Der Kreis der Gläubigen trifft sich einmal monatlich und will durch inniges Beten erreichen, dass das Freudenhaus geschlossen wird. Schwierig vorherzusagen, durch wen der Bordellbetrieb gestoppt wird: durch das Coronavirus oder durch das Beten?
Die Pandemiezeit beschwor besondere Lebenssituationen herauf. Dies begann im Mehrparteienhaus in der Eingangshalle, wir hielten Abstand zueinander und verzichteten auf einen Handschlag. Man vermied das gleichzeitige Lift fahren mit anderen Mitbewohnern. Die Gespräche beschränkten sich auf die Frage: „Wie steht es um deine Gesundheit?“ Hörte ich im Stiegenhaus jemanden in seiner Wohnung husten, fragte ich mich: Ist der Nachbar erkältet oder handelt es sich um erste Corona-Symptome? Bei Familienfeiern war fast nichts mehr erlaubt, es waren keine Geburtstagsfeiern mit mehreren Personen möglich. Bedeuten die Geschwister, die Nichten und Neffen eine potenzielle Gefahr? Wobei ich mir überlegte: Wie weit müssen wir alle Einschränkungen mitmachen? Bei der Verkündigung von neuen Verboten wurde mit dem Versprechen hausieren gegangen, im Sommer könnten wir leben, wie wir es bisher gewohnt waren. Es gab die Unsicherheit, ob durch Familienmitglieder das Corona-Virus in die Familie eingeschleppt wird; durch Verwandte in Berufen mit vielen Kundenkontakten – im Lebensmittelhandel, in der Pflege und im Außendienst. Andere engagierten sich in der Pfarre und sorgten bei den Kirchenbesuchern für die Einhaltung des Babyelefantenabstandes. Der Coronakrise geschuldet, wurde in Kärnten die Firmung durch den Ortspfarrer im kleinen Kreis gespendet. Es hat im Coronajahr keine Firmungsevents gegeben, ein Schritt weg von hierarchischen Strukturen zur Hauskirche, zur „Individualkirche“. Dieser Begriff ist erstmals in der Corona-Zeit gefallen. Wer das Risiko einer Infektion vermeiden wollte, konnte dem Gottesdienst fernbleiben und sich zu Hause individuell der Bibel und dem stillen Gebet zuwenden.
Der Begriff Individualkirche passt zur heutigen Gesellschaft, wo jeder andere Bedürfnisse hat. Welchen Bereich ich auch auswähle, wo wir es uns leisten können, geht es um Einzigartigkeit. Dies beginnt bei der individuellen Zusammenstellung eines Frühstücks in einem Café, bei der Auswahl eines McDonald's-Menüs oder bei einem selbst designten Kleid im Internet. Die Forschung verspricht für die Zukunft Arzneimittel, welche in der Wirkungsweise speziell für eine Person und ihre Beschwerden hergestellt werden. Die logische Fortsetzung wäre, nach Persönlichkeit, Lebensverlauf und Beruf, ein maßgeschneidertes religiöses Angebot. Unterstützt durch KI eine personenangepasste Aufbereitung der Bibeltexte. Jedem sein persönlicher Glaube, seine maßgeschneiderten Gebete, wie sein persönlicher Webauftritt.
Thomas von Aquin sagte: „Gott kann mit der Vernunft erkannt werden“. Daraus folgere ich, dass ein Dogma, welches Glaubenswahrheiten einzementiert, nichts Endgültiges ist. Wie in der Biologie, der Astronomie oder in der Medizin ist jeder aufgefordert, neue Erkenntnisse beizutragen. Ein Dogma ist Endpunkt eines innerkirchlichen Erkenntnisprozesses, ein Kilometerstein im Glauben. Der Prozess kann fortgesetzt werden und es kommen neue Kilometersteine dazu. Jeder ist aufgefordert, einen neuen Randstein dazuzufügen.
Es schmerzte, wenn beim Gottesdienst kein Zusammenrücken, sondern Auseinanderrücken gefragt war. Viele ältere Menschen kamen nicht mehr zur Heiligen Messe aus Angst vor einer Covid-Infektion. Die Virologen betonten die Gefahr einer Ansteckung, welche durch Sprechen und Singen größer wird, dabei werden viele Aerosole ausgestoßen. Sollte jemand unter den Gottesdienstbesucher infektiös sein, würden dadurch andere angesteckt werden. Verschärfend kam hinzu, dass die Kirchgänger über eine längere Zeit gemeinsam in einem Raum ausharren. Bei keiner Messfeier fehlte ein Gebet um das Ende der Pandemie und für Vertrauen in Gott. Verabschiedet haben wir uns von der Geste der Nachbarin, dem Nachbarn, die Hand zum Friedensgruß zu reichen. Dies wurde ersetzt durch ein Kopfnicken mit Maske. Dabei gefror das Lächeln unter der Mund-Nasen-Schutzmaske.
Während der Pandemiezeit las ich die Erzählung „Die Freiheit der Fische“. Darin faszinierte mich der unerschütterliche Glaube der Figur Jakob an die einzige Stabilität: die Regelmäßigkeit der Natur. Sein Glaube an die Wiederkehr des Frühlings nach dem Winter, das Kommen des Sommers, dem der Herbst folgt. An die Abfolge des Lebens: Verendete eine Katze, folgt die Geburt einer neuen. Gewissheiten, welche wir in unserer technischen und bespaßten Gesellschaft im Alltag oft übersehen, hatten für mich in Coronazeiten einen sinnstiftenden Wert. Woran konnte ich mich in diesen Monaten festhalten? Nicht an den Maßnahmen der Politiker, die unter einer Handlungsneurose litten, etwas musste verordnet werden und geschehen. Dies waren sie ihrer Wählerschaft schuldig. Manche Verordnung, die abends verkündet wurde, hat das Morgengrauen des nächsten Tages nicht erlebt. Beständigkeit war, wenn in der Nachbarschaft im Frühling die Blätter an den Bäumen austrieben, über den Sommer die Äpfel reiften und im Herbst geerntet wurde. Über dem Villacher Becken der Mittagskogel thront und im wechselnden Licht der Jahreszeiten sein Antlitz verändert.
In Politzen lebte eine Magd, welche für uns Kinder nach ihrem Äußeren eine Hexe war. Eine schmale Gestalt, langes und strähniges Haar und sie trug immer ein graues geflicktes Kleid. Sie hinkte und lallte ständig vor sich hin. An manchen Tagen kam sie abends, gefolgt von einer Schar Katzen, in der Hand eine kleine Blechkanne, in den Kuhstall. Mit ausgestreckter Hand bat sie um „a Schalele Mülch“ für ihre Katzen. Über sie habe ich später erfahren, dass sie für Unterkunft und Kost bei einem Bauern bei der Feld- und Stallarbeit mitgeholfen hat. Ihre Schlafstelle war ein Bretterverschlag im Kuhstall, darin eine Matratze und eine Decke zum Zudecken. Eine Koje, wo die jungen Kälber aufgezogen wurden. Gewaschen hat sich die Dirn, im Sommer und im Winter, im nahegelegenen Bach.
Nach zehn Monaten Isolationszeit vermisste ich fremde Stimmen, es gab die Stimmen der familiären Personen und das Stimmengewirr auf öffentlichen Plätzen. Ich schätzte die Radiosendungen, wo Menschen miteinander plauderten. Was ich nicht hören wollte: Radiomoderatoren, die berufsmäßig gute Laune verbreiten. Ich konnte das Herunterleiern von den Vorteilen der digitalen Kommunikation, Vorträge über Zoom, Videotelefonie und die Übermittlung von Fotos per WhatsApp nicht mehr hören. Zu sehr stellen wir das Auge, die visuellen Eindrücke in den Vordergrund. Mit den Augen erfassen wir ein beschränktes Gesichtsfeld, mit den Ohren können wir rundumhören. Geschieht etwas außerhalb unseres Gesichtsfeldes, werden wir davon zumeist erschreckt, im günstigen Fall bekommen wir eine Vorwarnung durch den Gehörsinn. Die Geschehnisse an den Rändern des Gesichtsfeldes sind kaum wahrnehmbar. Der Gehörsinn alarmiert uns auch nachts im Schlaf, gibt es im Umkreis Vorkommnisse. Ein Geräusch kann uns aufschrecken und aufwecken.
Ein Todesfall war in der Pandemie eine besonders belastende Situation. Viele Familien mussten auf die Teilnahme eines größeren Trauerkreises verzichten und die Mitteilung, der Verstorbene wurde im engsten Familienkreis beigesetzt, verschickt. Zwischenzeitlich wurden die Vorschriften für Begräbnisse während der Pandemiezeit gelockert. Außer den engsten Angehörigen konnten auch Bekannte und Verwandte an der Verabschiedung teilnehmen. In der Aufbahrungshalle musste der Babyelefantenabstand eingehalten werden. Wer Stil zeigte, trug zur schwarzen Bekleidung eine schwarze Mundnasenschutzmaske. Dazu die menschliche Distanz: Es war nicht gestattet, den Angehörigen mit einem Händedruck meine Anteilnahme auszudrücken. Die Verstorbene war eine sangesfreudige Person. Der letzte Gruß von den Sangesbrüdern, Kärntnerlieder von Schmerz, Verlust und irdischer Vergänglichkeit, kam aus der Musikkonserve. Die leibliche Anwesenheit des Chormitglieder war untersagt. Die Menschen, welche sich in der Totenhalle versammelt hatten, blieben schemenhaft. Hinter der Gesichtsmaske erkannte ich fernstehende Bekannte oft nicht. Die kaum sichtbaren Figuren des Künstler Valentin Oman an der Stirnwand der Aufbahrungshalle am Villacher Zentralfriedhof weisen für mich auf die Ungewissheit vor und nach dem Leben hin. Wir wissen viel über unseren Körper, unsere Umgebung und unsere Welt. Trotzdem bleibt es rätselhaft, warum wir zum Menschen geworden sind, welche Kraft uns antreibt und was uns nach dem Tod erwartet. Während der priesterlichen Rituale fällt mein Blick immer wieder auf die Graffitos. Mir ist, als blicke ich in einen weit entfernten Teil des Alls. Bis zu den Spiralnebeln, wo unsere Blicke auch mit den besten Teleskopen nicht mehr durchdringen, in die Ursuppe des Universums. In einen Nebelschleier gehüllt, bleibt unser Wissen um das Jenseits. Werden die Türen der Totenhalle geöffnet und der Blick auf den Friedhof freigegeben, lichtet sich der Nebel. Allen wird bewusst, dass der Sarg mit dem Leib des Toten in einem Grab beigesetzt wird.
Die Verabschiedung der Toten wird aus den Häusern, den Miet- und Eigentumswohnungen ausgelagert in die Aufbahrungshallen – die Totenhallen, wie sie im Volksmund heißen. Selbst kleine Gemeinden haben ihre eigene Totenhalle. Auch die künstlerische Ausgestaltung kann den Geruch des Todes nicht vertreiben. Für den Neubau der Aufbahrungshalle in einer Untergailtaler Gemeinde gab es eine öffentliche Ausschreibung. Unter den eingereichten Entwürfen gab es den, die Totenhalle als rotes Herz zu gestalten. Dieser Vorschlag eines Künstlers war den lokalen Gemeindepolitikern zu gewagt. Macht eine Totenhalle in Herzform den Tod erträglicher: den Tod einer Künstlerin, die über Bauchschmerzen geklagt hat und diese den Aufregungen zuordnete? Es war Unterleibskrebs. Den Tod des Hoteliers, der immer ein fröhlicher Mensch war, der mit seinem Schmäh eine Tischrunde unterhalten konnte und überall Optimismus verbreitet hat? Vielleicht war er eine Spur zu optimistisch und hat einmal zu viel gelacht, bevor er sich selbst das Leben genommen hat. Statt der Herzform gibt es jetzt eine der Tradition entsprechende Aufbahrungshalle. Einmal im Jahr verfasst das zuständige Gemeindevorstandsmitglied einen Bericht über das Bestattungs- und Friedhofswesen in der Gemeindezeitung.
Ich erinnere mich an einen Todesfall während meiner Kindheit, in der Nachbarschaft in Politzen. Unterhalb von unserem Bauernhaus lebte in einer Keusche ein Arbeiterehepaar mit einem kleinen Sohn und einer Kuh. Der Mann war im vier Kilometer entfernten Heraklithwerk in Ferndorf beschäftigt. Er arbeitete dort im Schichtbetrieb und ging zu Fuß zur Arbeit. Einige Tage vor Weihnachten ging der Nachbar in der Dunkelheit von der Nachmittagsschicht nach Hause. Dabei wurde er von einem Auto erfasst und getötet. Die Arbeit und der Alltag waren auf dem Bauernhof im Winter beschaulicher als zu anderen Jahreszeiten. Zu den gleichbleibenden Arbeiten zählte die Versorgung der Haustiere, das Füttern und Melken der Kühe. Nach der abendlichen Stallarbeit ging ich gemeinsam mit dem Vater zur Totenwache. Ein steiler Steig führte hinab zum Nachbarhaus, der Himmel war sternenklar. Der Schnee glitzerte und knirschte unter unseren Schuhen. Es war kalt und still. Wir brachten der Witwe Kaffee und Zucker mit. Der Verunglückte war im Schlafzimmer der Keusche aufgebahrt. Das Zimmer war voll mit Blumen und Kränzen, es brannten viele Kerzen und im Raum war ein intensiver Tannenduft und der Geruch von Kerzenwachs. Viele Nachbarn hatten sich zum Wachen und Rosenkranzbeten eingefunden. Manche saßen plaudernd bei Kaffee und Kuchen in der Küche. Der Sohn des tödlich Verunglückten spielte im Kinderzimmer mit der Eisenbahn, welche er sich vom Christkind gewünscht hatte.
Über dem Ehebett der Eltern hing ein Schutzengelbild. Ein Geschwisterpaar überquerte auf einer desolaten Holzbrücke einen reißenden Bach. Hinter ihnen steht ein Engel, welcher seine Flügel über sie ausbreitet. Abends habe ich meine Hände gefaltet und davor gebetet: „Heiliger Schutzengel mein, lass mich dir empfohlen sein. Auch in dieser Nacht halte bei mir treue Wacht. Amen.“ Von der Mutter wurde ich danach in die Mitte der Betten, auf die mit Stroh gefüllten Bettsäcke gelegt. Tagsüber hatte der Hofhund „Wächter” ein wachsames Auge auf mich, er war der Schutzengel. Einerlei, ob ich mich im Obstgarten aufhielt, in der Holzhütte spielte oder auf den Heuboden ging, er trottete hinterher. Eines Tages war er nicht mehr da. Die nächsten Tage sah ich ihn abends beim Einschlafen als Schatten auf der Zimmerwand laufen. Im Traum lief ich ihm hinterher und rief nach ihm. Die Mutter hörte meine Rufe und tröstete mich, der „Wächter“ sei jetzt im Himmel.
„Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen.“ MT 2.2 „Ein neuer Stern ist für die Menschheit aufgegangen: der COVID-19-Impfstoff.“
Gebet:Erhörung
Oft sagen wir, etwas sei der Sinn des Lebens und bei genauem Nachforschen erkennen wir, dass der Sinn öfter gewechselt hat. Es gibt kaum ein Gefühl, welches einen ein Leben lang begleitet. In der Kindheit sieht der eine heute den Sinn des Lebens in dem Besitz eines neuen Fahrrads, der andere im Besitz eines Smartphons. In der Jugend kommt die Pflege einer Freundschaft oder das Erreichen eines Schulabschlusses hinzu. Als Dreißigjähriger kann der Sinn des Lebens darin bestehen im Beruf vorwärtszukommen, in der Partnerschaft, Kindern und der Errichtung eines Eigenheimes. Ob es einen Sinn gibt, der sich durch das ganze Leben zieht, liegt außerhalb meiner Erfahrung. Kommt einem der Sinn in seinem Leben abhanden so ist es, als ob einem die Welt abhandengekommen ist. Aber wohin ist die Welt verschwunden? Wenn ich in der Früh aufstehe, ist sie noch da. So verlagert sich die Sinnfrage von einem Jahrzehnt zum nächsten, bis in die Zeit, ob es einen Sinn zum Leben braucht. Die Sinnsuche ist ein Antivirusprogramm für die Seele.
Wie gläubig kann ein Zweifler im fortgeschrittenen Alter werden? Ich erlebe, dass ich mit zunehmendem Alter religiöser werde. Im Leben erkenne ich zwei religiöse Phasen. Zur ersten gehört die Kindheit, wo von den Eltern und dann in der Schule religiöses Verhalten und Wissen vermittelt wird. Im mittleren Lebensabschnitt glauben wir, alles selbst in der Hand zu haben. Für den Erfolg, das Glück, die Liebe selbst verantwortlich zu sein. Den Fortschritt verbucht man auf sein eigenes Konto. Die zweite religiöse Phase setzt im fortgeschrittenen Lebensalter ein. Ich spüre, dass die körperlichen Kräfte, die Ausdauer und die Belastbarkeit nachlassen. Es ist nichts mehr so wie in der Lebensmitte. Jetzt wenden sich manche den geistigen und religiösen Themen zu. Damit wird die Hoffnung verknüpft, dass bei manchem Missgeschick, die jetzt häufiger werden, man aus dem Glauben und dem Gebet eine Unterstützung erfährt. Neben dem Partner, den Kindern, den Bekannten und Freunden holen wir uns einen Partner aus dem Überirdischen in das „Lebensboot.“
Beim Weichteilrheuma treten im Körper stufenweise an verschiedenen Stellen Schmerzen auf. Einmal in der Oberschenkelmuskulatur, bei den Sehnen im Schultergelenk, dann wieder im Hüftbereich. Angefeuert werden die Schmerzen durch Wetterumschwünge. Weniger bekannt und erforscht ist das Seelenrheuma. Die seelischen Verletzungen verursachen Magengeschwüre, begünstigen Herzrasen, Nackenschmerzen und Verspannungen in den Zehen. Wird es an einer Stelle ausgeräumt, dann tritt es an anderen Körperstellen erneut an die Oberfläche. Das Seelenrheuma ist ein ständiges Fließen im Körper. Wie können wir unsere Seele spüren? Die Hand und den Fuß nehmen wir wahr, wenn wir sie bewegen, oder sie verursachen Schmerzen.
Zwischen dem Straßennamen Mariahilfer Straße und der Bitte, „Maria Hilf!“ dürfte ein ideeller Zusammenhang bestehen. In der Nähe des Wiener Westbahnhofs, am Straßenrand, versammelte sich morgens eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen, um gegen die Freigabe der Abtreibung zu protestieren. Die Gruppe setzte sich aus jüngeren und älteren Männern und Frauen zusammen. Ein junger, schlanker Mann hält ein lebensgroßes Marienbild in die Höhe. Dargestellt wird Maria in einen blauen Mantel gehüllt, mit einem Glorienschein und einem Rosenkranz in den Händen. Die Frauen zeigen vor ihrem Unterleib vergrößerte Fotos von Ungeborenen in der dritten, neunten und zwölften Schwangerschaftswoche. Gemeinsam ziehen sie die Straße entlang. Durch ein Megaphon verstärkt, beten sie den Rosenkranz und singen Marienlieder. Zeigt die Verkehrsampel rot und die Autos werden für Minuten angehalten, kann ich ihre Gebete und Lieder gut hören.
Beim Kuraufenthalt gibt es die Gelegenheit, sich mit den anderen Kurgästen am Mittagstisch oder beim Flanieren in der Fußgängerzone von Abano auszutauschen. Unter den Kurgästen befinden sich viele alleinstehende Frauen, in geringer Anzahl ältere Männer. Nicht alle haben zu Hause einen regelmäßigen Austausch mit Familienangehörigen oder einen Freundeskreis. Ältere Damen umgehen Männerbekanntschaften und wenn, dann ist es eine Partnerschaft, um einen Cappuccino zu trinken. Beim Kaffeeplausch schildern sie die vielerlei Unpässlichkeiten, welche sie im Laufe des Lebens erfahren haben, Begebenheiten aus dem Eheleben. Für viele Witwen war es dazumal eine Zeit der Unterwerfung, sie waren den Launen und der Willkür der Ehemänner ausgeliefert. Diese Erfahrungen werden immer wieder erzählt, sie lösen sich nicht wie eine Vitamintablette im Wasser auf. Eine Möglichkeit für den Zuhörer damit umzugehen ergibt sich darin, zu den Ereignissen Abstand zu halten, positive Erlebnisse gegenüberzustellen. Zur zeitlichen Einordnung bedarf es der Frage, wann sich die Geschehnisse zugetragen haben. War dies vor fünfzig oder vor sechzig Jahren? So kann ich die Erlebnisse in einen gesellschaftlichen Kontext einordnen. Bei Schönwetter sitze ich am Mittwochnachmittag in der Nähe von Abano auf der Terrasse des Klosters San Daniele. Mit Blick auf den blumenübersäten Klostergarten und die Eugenischen Hügel. Davor habe ich in der Klosterkirche dem Stundengebet der Klosterschwestern gelauscht. Das Beten und Singen kamen aus einem nicht einsehbaren Winkel im Altarraum. In der Nähe des Weihwasserbrunnens lagen Bleistift und Notizzettel. Auf diesen konnten die Besucher eine Gebetsmeinung hinterlassen, welche von den Klosterschwestern in ihr tägliches Gebet aufgenommen wird.
Ich bin Sonntagabends mit dem Intercity-Zug von Villach nach Salzburg unterwegs. Der Waggon ist gering besetzt, auf der anderen Gangseite sitzt eine ältere Frau mit ihrem Enkel. In Badgastein steigt eine junge Frau mit einer Reisetasche zu, eine Kurzurlauberin, denke ich. Sie blickt mich kurz an und setzt sich der Frau gegenüber. Die junge Frau spricht die Oma an. Wie ein Dampfkessel, der unter Druck steht, redet sie auf die Oma ein und klagt ihr Leid: „Ich bin so niedergeschlagen. Ich fürchte mich vor dem morgigen Tag, vor den nächsten Wochen und ich weiß nicht, wie es mit mir weitergehen soll. Mein Freund hat mich vor drei Monaten verlassen, ein anderer Freund ist aus dem Fenster in den Tod gesprungen und meine beste Freundin ist neulich an einem Gehirnschlag verstorben. Diese Schicksalsschläge sind zu viel für mich, kein Arzt konnte mir bisher helfen. In meiner desolaten Verfassung finde ich auch keinen Arbeitsplatz. Wenn ich in Schwarzach/St. Veit ankomme, dann mache ich Schluss, ich werfe mich heute noch vor ein Auto.“ Die ältere Frau hat ihr aufmerksam zugehört, versucht sie zu beruhigen: „Vielleicht können die Eltern oder die Geschwister etwas für dich tun. Denken sie an die möglichen Folgen bei einem Selbstmordversuch. In ein paar Wochen kann sich deine Situation geändert haben und du wirst wieder an etwas Freude finden.“ Der Zug näherte sich Schwarzach/St. Veit und die junge Frau erhebt sich und geht zum Ausgang. Beim Vorbeigehen fordert sie mich auf: „Beten Sie für mich“.
In der Kreuzkapelle in Arnoldstein ist Christus seit Jahrhunderten und für die nächsten Jahrhunderte aus einem Felsen herausgemeißelt. Der gekreuzigte Christus, mit seinen flehenden, nach oben gerichteten Augen ist mir sympathischer als der auferstandene Christus, weil er von dieser Welt und im Leid mit uns vereint ist; den Menschen einen Spiegel vorhält, zu welchen Taten sie gegenüber anderen Menschen fähig sind. Weltweit gehören Vertreibung, Hunger, Pandemie, Krieg und Zerstörung zur Tagesordnung. Dies erleben wir momentan hautnah in Europa und im Nahen Osten. Auf dem Gebiet der psychischen Gewalt sind wir subtiler in der Ausübung von Macht und Machtansprüchen, Demütigungen und Beleidigungen.
Beim Wandern vom Harzberg nach Bad Vöslau ist mir das Gehen mit dem neuen Hüftgelenk leichtgefallen. Der Wanderweg führte bei der Kapelle „Das Auge Gottes“ vorbei. Auf dem oberen Sims der Kapelle steht: „Gott hat geholfen, Gott hilft, Gott wird helfen“. Vor der Kapelle verrichtete die Frau von einem Ehepaar ein stilles Gebet. Danach komme ich mit dem Ehepaar auf die Inschrift an der Kapelle zu sprechen: „Hilft beten?“ Die Frau antwortet: „Aus ihrer Krankheitserfahrung weiß sie, das Beten hilft“. Sie räumte ein, dass manche in die Kirche gehen, ein kurzes Gebet sprechen und schon hilft Gott. Andere beten lange und ihre Bitte wird nicht erhört. Wie lässt sich die unterschiedliche Wirkung des Gebets erklären? Das Ehepaar hofft auch auf einen Frieden in der Ukraine. Hilft dabei die Gebetsoffensive in den christlichen Kirchen?
Wo bleibt die Wirksamkeit der aktuellen Fürbitten von den Gläubigen in den Gotteshäusern, welche an Gott gerichtet sind und um einen Frieden in der Ukraine und im Nahen Osten gebetet wird? Von Seite der Gläubigen ist es eindeutig, an wen sie ihre Fürbitten richten. Vielleicht versteht ER unsere Sprache nicht oder die Apostel und die Kirchenväter haben IHN nicht ergründen können? Mit unseren Denkmustern wollen wir es schaffen, unsere Fürbitten an SEINEN Thron heranzutragen, damit kommen wir höchstwahrscheinlich nur bis an SEINE Haustüre.
Auf dem Gail-Radweg zwischen Fürnitz und Villach gönne ich mir in der Nähe der Eisenbahnbrücke bei einem schlichten Holzkreuz eine kurze Rast. Am Holzkreuz steht die Inschrift: „Wanderer, gedenke des hier Verunglückten Rudolf S.“ Heute sind hier fast ausschließlich Radfahrer unterwegs. Von den meisten E-Bikern wird das einfache Holzkreuz übersehen, sie sind mit einem mehrfachen Tempo unterwegs als vor vierzig Jahren die Wanderer. Mir sind das einfache Holzkreuz und „das Bankerl“ seit Jahren bekannt. Komme ich mit dem Fahrrad vorbei, unterbreche ich die Fahrt, setze ich mich auf „das Bankerl“ und spreche ein kurzes Gebet. Ich habe Herrn Rudolf S. nicht persönlich gekannt. Mich beschäftigt der Gedanke: Wo wird jetzt seine Seele sein, weiß er davon, dass ich an ihn denke und für ihn bete? Die Fragestellung, ob Rudolf S. im ewigen Leben angekommen ist, wie es viele Religionen lehren, ist für mich auch nach Jahren unbeantwortet. Dieses Wissen hat er uns voraus oder ist er im Nichts gelandet? Ist das Weiterleben im Jenseits eine Hoffnung, welche das irdische Leben erträglicher machen soll? Thomas von Aquin sagte zum Wesen der Seele: „Sie ist im ganzen Körper gegenwärtig und es stirbt der ganze Mensch und steht als ganzer Mensch wieder auf.“ Nach meiner momentanen Gefühlslage brauche ich im Jenseits keinen neuen und nicht meinen alten Leib. Durch das Alter ist die Gebrechlichkeit des Körpers dazugekommen. Werde ich mich im Jenseits als „schrulligen Papierhändler“ erleben, wie mich der Redakteur Peter Zimmermann in einem Aufsatz auf der Ö1-Webseite beschreibt: „Hätte sich nicht zufällig der schrullige Papierhändler nach Arnoldstein verirrt, dann wäre die Literatur an mir abgeprallt wie die Fächer Chemie, Physik und Nachmittagsturnen. Im Geschäft des Papierhändlers habe ich zur Literatur gefunden“. Die Auferstehung kann aufregend werden, falls meine Seele die Attribute Spannung und Überraschung kennen wird, wie ich es im Heute erlebe.
Gebet:Hilfe
Den folgenden Gedanken liegt die Teilnahme an der Lehrveranstaltung „Das Gebet in der Religionsphilosophie“ zugrunde.
Es ist kein neues Phänomen, dass in Zeiten in denen Naturkatastrophen, Krieg und Pandemie uns direkt betreffen, die Frage gestellt wird: Wo ist Gott und hilft beten? Diese Frage ist jetzt bei vielen Menschen virulent geworden. Genügt dafür der Hinweis: Not lehrt Beten? Einerseits drückt dies unsere Hilflosigkeit bei solchen Ereignissen aus, anderseits die Hoffnung, dass Gott konkret in das Geschehen eingreifen könnte.
Hilft beten? Mögliche Antworten sind so breit gestreut wie die Charaktere der Gläubigen: Gott hat das Universum erschaffen und greift in seine Schöpfung nicht ein. Es könnte sein, dass Gott sich in seinem Schöpfungsakt selbst beschränkt hat und nur einen bestimmten Spielraum für Eingriffe offengelassen hat; sein Eingreifen für uns nicht empirisch messbar ist. Mit unserem freien Willen können wir zwischen Gut und Böse wählen, zwischen Frieden und Krieg entscheiden. Möglich wäre, dass Gott mit Europa andere Pläne hat als wir es uns wünschen und vorstellen können. Damit könnte erklärt werden, warum Gott auf Verlangen der Menschen Leiden und Ungerechtigkeiten nicht einfach aus der Welt beseitigt. Dies lässt erahnen, warum Gott in der jetzigen Situation trotz der vielen Gebete einen Frieden in der Ukraine nicht einfach herstellt. Das Gebet zielt nicht darauf ab, Gott zu verändern, sondern die Betenden zu besseren und hilfsbereiten Menschen zu formen. Erst durch das Gebet werden Teile des göttlichen Heilsplans aktiviert. Gott kann nur eingreifen, indem er mit dem Menschen in eine Beziehung eintritt, vorausgesetzt der Mensch will es. Aus christlicher Sicht ist das primäre Ziel die Erlösung der Seele. Gebete um persönliche Wünsche, wie um mehr Einfluss am Arbeitsplatz, könnten für das eigene Seelenheil kontraproduktiv sein. Zitat von Thomas von Aquin: „Denn wir beten nicht darum die göttliche Haltung zu ändern, sondern, damit Gott durch das Beten jenes bereitstellt, was durch die heiligen Gebete vorgesehen wurde.“
Jesus ermahnte seine Jünger, richtig zu beten und nicht zu plappern wie die Heiden. Er lehrte ihnen das Vaterunser. Jesus hatte keine Präferenz für das Bittgebet. In seinen Bitten an den Vater verwendete er zumeist den Zusatz: Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.
LV-Titel „Das Gebet in der Religionsphilosophie“; Univ. Prof. Clemens Sedmak; Universität Salzburg
Franz Supersberger, Villach, franz.supersberger@gmail.com, www.schlagloch.at
- FR 19.7., 8 Uhr: Ivana Bogdanovic:
Gottesvorstellung in der Literatur von Nihilismus bis Atheismus
KURZVORTRAG SYMPOSIUM
„Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken: Wohin ist Gott? Rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“
Herzlichen Dank für diese Einladung! Es freut mich sehr, hier zu sein, – für diesen impulsgebenden Kurzvortrag mit dem Leitmotiv „Das Wort und das Nichts“.
Festgehalten sei, dass dieser Kurzvortrag seiner Funktion nachkommend, – für eine später anschließende Diskussion impulsgebend zu sein, – weder rein von der wissenschaftlichen Art ist, noch von der freisprechenden. Er lässt sich verorten zwischen wissenschaftlich unabgeschlossener Recherche und Essay – daher werden Zitate umfangreicher in den ‚Fließtext‘/Redefluss übernommen/eingebaut, – also freier und im Sinne von Impulsen, da der Hörer stellenweise unkommentiert in die Recherchearbeit der Referentin mitgenommen werden soll. Selbstverständlich sind die Zitate ausgewiesen und samt Quellenangaben. Auf diese Sonderform bzw. eine gewisse Unausgearbeitetheit des Kurzvortrags sei hier zu Anfang mit Nachdruck verwiesen.
„Das Wort und das Nichts“. – Ich hatte sofort einige Anfangsgedanken: Das Wort ist einmal das ausweisende Merkmal der Spezies Mensch, sowohl anthropologisch evolutionsgeschichtlich, als auch eine Anspielung auf Gott aus dem Johannesevangelium. Wir kennen alle das Zitat aus dem Johannesevangelium: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“
Es geht also ein wenig auch um die altgriechische Bedeutung von Logos bzw. Wort, das auch als ein ordnendes Prinzip verstanden wird. Also, das Wort ist auch ein ordnendes Prinzip.
Was wir jedoch hier auch nicht vergessen dürfen, ist, dass das Wort auch ein Mittel zur Manipulation, Persuasion und Propaganda sein kann. Doch dieser Aspekt liegt heute außerhalb unseres Themenschwerpunktes.
Ich habe heute mit Ihnen vor, innerhalb dieser vorgegebenen Pendelbewegung zwischen Wort und Nichts das Feld der Weltliteratur zu beschreiten.
Verkürzt gesagt, könnten wir von dieser Umrahmung zwischen Wort und Nichts assoziativ-essayistisch einen Bezug zu Gott und Nichts herstellen und zuerst einen weit gefassten Zugang über den Begriff der Gottesvorstellung suchen. Und zwar einmal ist es die Art und Weise, wie Menschen Gott denken in ihrer philosophischen Veranlagung und kreativen Imagination, und dann ist es auch eine un-/dogmatische Art und Weise, über Gott Worte zu verlieren. In diesem Zusammenhang will ich Gott vorerst oder auch durchgängig undefiniert lassen. Symbolisch dargestellt als eine als absolut Höchstes gedachte leere Menge.
Und auch das Nichts ist ein interessantes Konzept: einmal ist es die Abwesenheit von etwas – verweist in Richtung des Atheismus, dann eine undefinierte leere Menge, und dann im Sinne des Nihilismus eine gewisse Negation bzw. das Gegenteil von Affirmation, was keinesfalls in seiner dialektischen Wertigkeit nur negative Folgen im Sinne eines Schlechten oder Bösen haben muss. Das Verständnis von Nichts oder Negation soll philosophisch *differenziert* gehalten werden. Ich gehe in meinen Ausführungen davon aus, dass dialektisch gleichbedeutend sein kann mit möglich.
Im Zusammenhang des Wortes wäre es zudem interessant, auch auf seine (des Wortes) Dialoghaftigkeit hinzuweisen. Jedoch in einen Dialog mit Gott oder dem Göttlichen zu treten, erweist sich als schwer: Worte bleiben unbeantwortet. Und doch kann man versuchen, dieses Mühen um einen Dialog mit Gott der Schriftsteller festzuhalten. Ich bin von einer sprachphilosophischen, symbolischen oder auch linguistischen Prämisse ausgegangen, und zwar sofern wir das Wort Gott in den Mittelpunkt stellen, betonen wir einmal, dass wir anerkennen, dass es dieses Wort gibt (vgl. Wittgenstein, Spätwerk, bei Nietzsche zu Grammatik). Das Wort existiert an sich in der Logik des menschlichen Sprechens. Es gibt also ein Bedürfnis, ein Höchstes zu definieren, und das wurde – rein sprachlich konventionell (arbiträr) gesehen – als Gott anerkannt.
(Wir können die strukturalistische Unterscheidung von Signifikat/Signifikant bemühen)
Der Ausdruck „Signifikat“ (Deutsch: „Bezeichnetes“) bezeichnet in der strukturalistischen Sprachwissenschaft und auch in der Zeichentheorie oder Semiotik die Inhaltsseite eines Zeichens. Dem gegenüber wird die Ausdrucksseite als „Signifikant“ wiedergegeben. Wenn man dieses Modell um das semiotische Dreieck ergänzt, dann tritt noch ein drittes hinzu: und zwar der Gegenstand oder das Referenzobjekt. Dadurch verweist der Ausdruck auf den Gegenstand bzw. es stellt sich eine Beziehung des Referierens zwischen diesen drei ein. Wenn man also von Gott, dem Wort, ausgeht in unserem heutigen philologischen oder linguistischen Verständnis, dann kann man sagen, dass seine Existenz innerhalb dieses semiotischen Modells oder Dreiecks gesichert ist.
Um im Bild zu bleiben: Also, wir haben einmal das Wort „Gott“ ohne jeglichen Artikel. Dann erweitern wir dieses Bild und gehen über zu „der Gott“. Und das kann natürlich dann der Gott des Christentums sein, der Gott des Islams, der Gott des Judentums, der Gott des Buddhismus. Und da sehen wir auch: Es gibt eine Grauzone zwischen Abstraktion, Vorstellung und innerhalb dieser auch eine Skalierung zwecks Dogmatisierung. Diese artikellose Abstraktion Gott führt uns zum nächsten Punkt: Gott als etwas und in Opposition zu Nichts zu betrachten. Dann könnten wir sagen: Anstelle jenes bestimmten Artikels könnten wir auch den unbestimmten Artikel verwenden – „ein Gott“. Dadurch verändert sich der Bedeutungszusammenhang ein wenig. Es ist nicht mehr „der Gott“, es ist „ein Gott“, es ist ein möglicher Gott. Und natürlich gibt es auch die Variation: Es gibt nur den einen Gott. Man kann das also einmal reduktionistisch bestimmen und dann auch davon ausgehen, sprachlich: Es gibt einen (Gott). Das ist also erstmal nur eine Affirmation: Er ist da, es gibt ihn, wir wollen glauben, dass es ihn gibt. Das wäre eine Erweiterung. Wenn wir jetzt weiter in diese Relativierung durch Worte eindringen oder diesen Pfad weiterverfolgen, dann kommen wir zur Negation. Diese wird durch den negativen Artikel, die Verneinung „kein Gott“ in der Sprache wiedergegeben: „einen Gott“, „keinen Gott“. Es gibt keinen Gott, Gott ist tot – Nietzsches bekanntes Diktum.
Auf Nietzsche kommen wir noch vereinzelt zurück. Unter dieser Überdachung „kein Gott“ finden wir sowohl skaliert den Atheismus wie auch den Nihilismus. Über ihren Zusammenhang kann ich nicht viel Zeit verlieren. Das wäre wahrscheinlich ein eigener Vortrag und eine Debatte darüber, was nun älter sei, die Henne oder das Ei – was ist Ursache, was Folge. Ist der Nihilismus Folge oder Ursache des Atheismus. Das dem Christentum eine gewisse nihilistische Anrüchigkeit anhaftet ist nicht nur durch Nitzsche, ganz von der Hand zu weisen.
Alexey Ponomarev sagt zum Verständnis des Nihilismus, dass dieser einmal philosophisch, dann theologisch, kulturwissenschaftlich, politisch und auch literarisch verstanden werden kann. Als Begriff stellt er unter anderem die Frage, ob der Nihilismus eine Form des Skeptizismus, des Materialismus, des Idealismus, des Realismus, Atheismus oder Pessimismus ist. Ist Nihilismus eine Spielart der Erkenntnistheorie, eine positive Lehre der individuellen Freiheit und der Verneinung jeglicher Autorität? Ist es nur Theorie oder Erfahrung, passive Wahrnehmung oder aktive Erkenntnis, Enttäuschung oder dämonische Begeisterung? Die übliche wissenschaftliche Analyse würde von der Herkunft des Begriffes ausgehen: Nihilismus kommt aus dem Lateinischen „nihil“, was „etwas“ oder „Negation“ bedeutet. Aber diese Erkenntnis bringt uns kaum weiter, denn jede Negation erweist sich in jeder Wirkung schon als etwas. Eine totale und absolute Negation erscheint kaum denkbar. Auch ist diese Verneinung im Nihilismus selbst keine absolute, sondern eine relative, denn sie erstreckt sich nicht auf alles und nicht auf alle Gebiete. Also man könnte meinen, dass dem Nihilismus selbst ein gewisses Paradox innewohnt. Auch eine Exegese aller möglichen Bedeutungen des Nichts vermag uns nicht weiterzuhelfen, denn dieses Wort existiert seit Menschengedenken in den verschiedensten Kontexten und Formen. Dann gibt es auch eine Emotionalisierung des Nihilismus als eine Grundstimmung. Man könnte den Nihilismus durchaus essentiell nehmen, als eine Lebenserfahrung, vielleicht auch als Lebensweise, als eine Ästhetik. (zit. Vorwort, Ponomarev 2010: vii-xi)
Und dann gibt es auch eine gewisse Art der Kapitulation in den Wissenschaftskreisen, dadurch dass sich der Nihilismus einer strengen wissenschaftlichen Methode entzieht und dadurch der Forschung schwer zugänglich bleibt. Diese Meinung vertritt Hermann Rauschning (1950: 8; Ponomarev 2010: 15, passim). Es gibt also weder eine einheitliche Definition des Nihilismus noch gibt es eine eindeutige Methode, ihn zu erforschen. Und natürlich stellt sich dann die methodologische und auch die philosophische Frage: Wie sprechen wir dann über den Nihilismus, wenn er so schwer fassbar wird und sich derart zu entziehen scheint? Es hat sich die Meinung vefestigt, vor allem z.B. bei Schopenhauer, dass „der Begriff des Nichts wesentlich relativ ist und sich immer nur auf ein bestimmtes Etwas bezieht, welches er negiert. Jedes Nichts ist ein solches nur im Verhältnis zu etwas anderem gedacht und setzt dieses Verhältnis, also auch jenes andere, voraus.“ (zit. n. ebd.: 15) Doch ist diese Definition, gerade so eine die uns wenig weiterhilft, weil sie uns das Nichts und den daraus sich abgeleiteten Nihilismus wieder allzu unscharf definieren lässt und uns auch tatsächlich nicht weiterbringt – eher zirkulär anmutet. Daher könnte es sich hierbei genauso um eine kognitive bias handeln.
Jean Paul definiert in seiner „Vorschule der Ästhetik“ aus dem Jahr 1804 den poetischen Nihilismus. In diesem theoretischen Werk über die Romantik sagt er: „Es folgt aus der gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes, der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien Spiel-raum im Nichts auszuleeren, und welcher den Verband seiner Wunden als eine Fessel abreißt-, dass er von der Nachahmung und dem Studium der Natur verächtlich sprechen muss.“ (zit. nach Ponomarev 2010: 130; Original: Jean Paul: Vorschule der Ästhetik: 31) Wenn wir dieses Zitat von Jean Paul auf unsere Wirklichkeit beziehen, dann kann man daraus einiges zu heutigen Umweltschutz-Debatten mitnehmen: über die Nachhaltigkeit unseres Daseins hier auf Erden und über die Verantwortung, die dieses Dasein mit sich bringt. Auch, dass man durch seine Arroganz, des Öfteren als Fessel etwas begreift, was eigentlich unserer Krankheit Abhilfe schaffen soll. In diesem Sinne fand ich das Zitat interessant.
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Elisabeth Kuhn hat eine Studie herausgegeben mit dem Titel *Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus* (1992) und da geht es um die Aufnahme des Nihilismus-Begriffs (S. 10–11) bei Nietzsche. Eine lesenswerte Studie, die den Begriff des europäischen Nihilismus ab und um 1880 sehr gut skizziert, wasPonomarevs Studie gleichwohl mit dem Zeitraum der deutschen Vor-/Romantik macht. Beide zeigen, dass die Wurzeln des europäischen und russischen Nihilismus im 19. und im 20. Jh. sich bis in die Problematik der deutschen Romantik bzw. des Sturm und Drang zurückverfolgen lassen (vgl. Ponomarev 2010: 129). Bei Kuhn liest es sich, dass der Nihilismus-Begriff um u.a. 1880 (nebst dem Einfluss der Philosophie Schoppenhauers) eine Polemisierung und Bedeutungsverengung erfuhr, welche durch die Attentate russischer Oppositioneller auf ausgesuchte politische Persönlichkeiten ausgelöst wurden und die sich als Synonym von Nihilismus und Terrorismus in der russischen und der europäischen nicht-fiktionalen Literatur bis in die Zeitungen hinein niederschlug/en. Dem Nihilismus-Begriff widerfuhr gleichzeitig eine Bedeutungsinflation und Sinnentleerung, die durch seine Verbreitung und Popularisierung gefördert wurde und die sich als Aufwertung der Synonymität von Nihilismus und Terrorismus in die Besetzbarkeit mit den verschiedensten Bedeutungen kennzeichnete und sich zum Verlust der Spezifizität in der internationalen nicht-fiktionalen Literatur auswirkte (ebd., passim). Erste Erwähnungen des Nihilismus bei Nietzsche gehen auf 1880 zurück und der breitere Kontext der Verwendung dieses Begriffs bei Nietzsche (–), ist zum einen, dass er auf Schopenhauer zurückgeht. Dann aber ist es interessant oder wichtig, dass das Anliegen der Nihilisten die Revolution sei und dass der Name für die Befürworter zweier Revolutionen, der französischen und der russischen, verwendet wird (Kuhn 1992: passim). Während der französischen Revolution wurde der Ausdruck "Nihilist" von revolutionären Gruppen als Selbstbezeichnung verwendet. Während der russischen Revolutionsbestrebungen wurde der Name "Nihilist" von Liberalen und Konservativen als Fremdbezeichnung gebraucht und von Oppositionellen als Selbstbezeichnung übernommen (vgl. Kuhn 1992: 14).
Worauf ich über Nietzsche vermittelt eigentlich hinaus will ist der Rückverweis auf Deustojewskij, dessen Werk von Nietzsche rezipiert wurde, und über Dostojewski dann zu Bulgakows Roman Meister und Margarita, was ohne den Kreis über Goethe zu schließen undenkbar wäre. (Heute wird der Kreis zwar nicht geschlossen, aber einen Versuch war es dennoch wert). Hierbei haben die Versuchungen Jesu ihre Eigenständigkeit – als Urquelle dieses Motivs, zumindest in der christlichen Weltanschauung. Darum war mir jener Zusammenhang zwischen Nihilismus und Revolution einigermaßen wichtig, weil es fast unmöglich ist, Dostojewskis Werk oder Bulgakows Werk zu verstehen, ohne die Vorbedingungen und auch die Folgen der russischen Revolution vorher ins Auge gefasst zu haben, wenigstens oberflächlich.
Wenn wir aber über Dostojewskis Schriften sprechen, dann werden zwei seiner großen Werke Die Brüder Karamasow und Die Dämonen für uns wichtig, die beide vom Nihilismus geprägt sind. Obwohl sich in vielen Werken der Nihilismus als Thema findet, habe ich mich aus eigener Präferenz für diese zwei entschieden, um einen Verweiszusammenhang zwischen den Werken herzustellen, was mit der Abzweigung zu Goethe enden soll, obwohl es hier und heute nicht gänzlich ausgeführt werden kann. Denn wir wissen, es ist Goethes Faust, der nachhaltig die Weltliteratur durch seine Aufnahme des Bösen oder des Teufels (oder dieser Legende von Faust) geprägt hat – von einem Menschen, der seine Seele verkauft, um seine allzumenschlichen Ziele zu erreichen. Wir kennen alle die Geschichte von Faust und auch deren Wiederaufnahme durch die Figur des Teufels in den Karamasows (als Fibertraum des Ivan Karamasow) wo der Teufel als Ur-Nihilist (aus Goethes Faust), das weltberühmte Mefisto–Zitat aufsagt:
[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. ...
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
Und tatsächlich: Gibt es eine prägnantere Definition des nihilistischen Geistes nach christlichem Verständnis, als diese Verse Goethes es darstellen: Die Opposition zwischen etwas und nichts ist da, zwischen Affirmation und Negation, in dieser eng verstandenen Dialektik, die das eine definiert, indem sie das andere ausschließt. Und zu guter Letzt das Körnchen Relativierung, die Verneinung und das ganze Kosmos der Psychologie des Nihilismus, das einige Jahrzehnte später in Nietzsches Ausführungen zur Psychologie des Nihilismus wiederzufinden ist.
…
Vor diesem Hintergrund möchte ich mich nun bewegen und vier Miniaturen aus der Literatur mit Ihnen zu besprechen. Ich habe ja schon angedeutet: Einmal geht es um die Versuchungen Jesu in der Wüste, die Iwan Karamasow mit seiner Figur des Großinquisitors im gleichnamigen Poem, die Figur ist aus Schillers Don Carlos übernommen, wie folgt darstellt (bitte siehe weiter unten) Dann geht es um den Nihilisten Kirilov aus den Dämonen, das Wirken der Figur des Teufels bei Bulgakow, und schließlich um die Auflösung dieser Dichotomie Gott-Teufel bei Goethe, was heute nur beim oben angeführten Zitat Mefistos bleiben wird:
„Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins,“ fuhr der Greis fort, „der große Geist redete zu Dir in der Wüste, und uns ist in den Büchern überliefert, daß er Dich dort versuchte. Ist das so richtig? Ist irgendwo, frage ich, mehr Wahrheit enthalten als in den drei Fragen, die er Dir stellte und die Du verwarfst und die in den heiligen Büchern Deine Versuchung genannt werden?“
Wir kennen die Antworten auf die ersten zwei Versuchungen, diese interessieren uns hier nicht eindringlicher: Einmal: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ und dann: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ – also Selbstmord ist ausgeschlossen, wie auch selbstmörderischer Terrorismus, gewissermaßen, wenn man an Dostojewskis Dämonen und an die Figur Pjotrs oder Kirillows denkt. Aber die dritte Versuchung ist gewissermaßen im Kontext von Nihilismus bezeichnend: Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Da sprach Jesus zu ihm: „Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben 5. Mose 6,13: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“ Da verließ ihn der Teufel. Warum ist diese Stelle interessant – weil es hier einen Dialog, ein Sprechen zwischen dem Teufel und Jesus gibt. Es gibt eine lebhafte Opposition zu Gott, die manifest dar ist, die intellektuell herausfordernd ist – und die als das Göttliche unterwanderndes, um- und entwertendes Prinzip im Vorstellungskreis der damaligen Schreiber agiert. Die manifeste Negation ist der dialektische Verweis auf einen im Sprechen verharrenden und materiell abwesenden Gott, der seiner u.a. Opposition wohl viel Spiel-raum lässt. Bei Faust haben wir ganz klar beim selben Motiv ein menschliches Einknicken.
Die Frage, die sich Dostojewski mit Iwan Karamasow stellt, ist natürlich die Frage der Theodizee. Kann Gott sein, wenn man das Leid der Menschheit vor Augen hat? Die Theodizee-Frage bleibt ungelöst, selbst bei ihm. Sie wird zur Glaubensfrage, was ich Ihnen überlasse, bei Dostojewski nachzulesen
Diese Miniatur endet mit der Prämisse/Duktus Iwans: Gibt es keinen Gott, dann ist alles erlaubt – und das ist die Fundierung bei den Nihilisten Dostojewskijscher Provenienz, die auch bei Nietzsche nachklingt. So entscheidet sich der vierte Bruder, Smerdjakow zum Vatermord und Kirillow aus den Dämonen/Bösen Geistern (vgl. das Motto zu Anfang des Buches: Lukas 8, 32–36 ) zum Selbstmord. Oder Pjotr zum Mord des Studenten Shatow. Stawrogin missbraucht sexuell ein Mädchen und treibt es in den Selbstmord. Und hier sehen wir, wie der Nihilismus in den Atheismus überführt wird. – Gott ist nicht tot, er hängt nicht nichtssagend an irgendeiner Wand, es gibt ihn schlicht und einfach nicht, der Herrgottswinkel ist leer (vgl. Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadratt).
Um hier den Atheismus nur kurz aufzugreifen, greife ich zu Richard Fabers und Susanne Lanwerds Sammelband „Atheismus: Ideologie, Philosophie oder Mentalität“. Feber zitiert Fontane zu Anfang des 20. Jahrhunderts bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts, wo dieser Zeuge einer gewissen Entkirchlichung in Berlin wird und von dieser Zeugnis ablegt. Das heißt, die Kirchen werden sonntags immer weniger und weniger besucht, obwohl Neukirchen weiterhin erbaut werden (Faber/Einleitung/Faber&Lanwerd 2006: 7ff.).
Hiermit sind wir also bei der Gretchenfrage angelangt: *„Wie hältst du es mit Gott?“* Diese soll später wieder aufgegriffen werden und ist als Bild auch wichtig für uns, aber dazu kommen wir noch. Faber hält fest, indem er die Statistiken aus dem Jahr 1995 zitiert, dass sich zu der Zeit 5% im Westen und rund 20% im Osten als überzeugte Atheisten verstehen. Um 55% der Weltbevölkerung, gleich in welchem Sinne, verstehen sich als religiös, aber nur rund 30% im Osten Deutschlands ergab sein Vergleich. Heute ist die Lage weitaus dramatischer: Aktuelle Statistiken zur Verteilung von Atheisten und religiösen Menschen in Deutschland zeigen deutliche Unterschiede zwischen den ehemaligen Ost- und Westgebieten. Eine Schätzung aus dem Jahr 2021 zeigt, dass etwa 41,9% der deutschen Bevölkerung keiner religiösen Gruppe angehört. Dies ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu den von Faber zitierten Zahlen aus 1995. Besonders in Ostdeutschland ist die Zahl der Nichtgläubigen bemerkenswert hoch: etwa 70-79% der Bevölkerung in Bundesländern wie Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg identifizieren sich als nicht religiös【https://en.wikipedia.org/wiki/Irreligion_in_Germany】.
Eine weitere aktuelle Quelle zeigt, dass etwa 11,6% der deutschen Bevölkerung sich als Atheisten bezeichnen, was auch die Unterschiede zwischen Ost und West bestätigt. In Westdeutschland sind die religiösen Bindungen weiterhin stärker ausgeprägt als in den östlichen Bundesländern【https://worldpopulationreview.com/country-rankings/most-atheist-countries】.
Diese Daten veranschaulichen, dass die S
Fortsetzung 3. Teil:
https://www.kath-kirche-kaernten.at/pfarren/detail/C3057/symposium-3-teil