Die Welt verändern, indem wir Gutes tun
Der Religionswissenschaftler Joachim Valentin über die gesellschaftspolitische Dimension des Handelns jedes einzelnen
Beim „Forum Junge Theologie“ der KPHE im September haben Sie über „das Böse“ referiert. Welche Herausforderung für Theologie und Philosophie sehen Sie darin?
Valentin: In den Medien begegnet uns oft die Rede vom Bösen: Damit werden Übel beschrieben wie Tsunami oder Erdbeben, aber auch Selbstmordattentate, Drogenhandel, die Politik eines bestimmten Staates oder Politikers etc. Auch aus seinem persönlichen Leben kennt jeder die kleinen Bösartigkeiten des Alltags. Aber wir fragen nicht mehr, wo es herkommt, oder ob eine Welt denkbar wäre, wo es das Böse nicht gibt. Wir wissen nicht mehr, was die Tradition dazu gesagt hat, wie z. B. Augustinus den Erbsündengedanken ausgefaltet hat, oder was nach katholischer Morallehre eine Sünde ist. Dagegen sind Verschwörungstheorien modern: Die Geheimdienste stecken dahinter, der NSA hört uns ab, Putin, die Islamisten, der Islam tut uns Böses an ...
Welches Problem sehen darin?
Valentin: In vielem wird das, was passiert, entsubjektiviert: Es geschieht einfach, und man überlegt nicht, wer der Verursacher ist. Wir fragen zu wenig: Was ist das eigentlich – das Böse? Ist das böse, was getan wird? Welche Absicht steht dahinter? Wir machen uns auch gern selber zu Opfern. Wir fragen viel weniger als früher nach Verantwortung. Es fehlt heute eine Kultur der Gewissenserforschung, bei der man sich vor dem Einschlafen nochmals fragt: Was war heute gut, was weniger? Damit fehlt aber auch ein Stück der Selbstkultivierung. Wenn jemand sagt „Du hast mich gerade verletzt!“, reagieren wir dann nicht oft abwehrend „Na gut, aber das ist dein Problem, du bist überempfindlich oder du hast ein Kindheitstrauma“, statt uns die Frage nach Verantwortung zu stellen?
Was meint der Begriff „böse“: schädlich, unheilstiftend?
Valentin: Der Begriff selbst kann viel Unheil anrichten. Es ist ambivalent zu sagen: „Ich werde böse“ oder zu jemandem: „Du bist böse“. Da meint man eher „zornig“. Jemanden als Ganzen als böse zu qualifizieren, das ist eine brutale Übergriffigkeit. Die katholische Moraltheologie sagt niemals: Ein Mensch ist böse. Sie ist sogar so optimistisch zu sagen, dass jeder Mensch gut geschaffen wurde – aber er kann böse Taten setzen. Außerdem müssen wir fragen, ob es so etwas wie mildernde Umstände gibt, ob jemand aus Betroffenheit, im Affekt, aus grundständigen Bedürfnissen heraus so gehandelt hat oder ob er vielleicht gar nicht anders handeln konnte? Hat man diese Fragen gestellt, bleibt immer noch ein eine Verantwortlichkeit der Person. Scheitern, falsches Verhalten, Fehler, Sünde gibt es tatsächlich. Das sagt nicht nur die Kirche, sondern auch z. B. der Philosoph Immanuel Kant: „Jeder ist verantwortlich für das, was er tut.“Aus dieser Herausforderung, dieser Grundsituation kommen wir nicht heraus.
Einrichtiger Dialog ist immer auch einer, aus dem alle mit positiven Persönlichkeitsveränderungen herausgehen.
Viele glauben an das Gute, an Gott vielleicht schon weniger. Wie kommt das Gute in die Welt?
Valentin: Da argumentiere ich ganz streng biblisch: Gott will das umfassende Heil des Menschen, das im Alten Testament „Shalom“ heißt. Daraufhin hat er die Schöpfung angelegt. Der Mensch ist auch darauf angelegt, dass er in der Lage ist, gut zu handeln. Dazu hilft das Gewissen, das allerdings auch gebildet werden will. Dass es gut tut, gut
zu sein, darauf weist nicht nur die Bibel hin, sondern auch die Philosophie: In der guten Tat selber liegt bereits die Belohnung – weil man spürt, dass man etwas Positives bewirkt hat. Die alte Erfahrung
„Geben ist seliger denn nehmen“ meint auch: Was den anderen gut tut, tut auf lange Sicht auch mir selber gut.
Das ist eine gute christliche Handlungsanweisung – aber lehren uns wirtschaftliche Zusammenhänge nicht etwas anderes?
Valentin: Nein, Gutes tun hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension, da stimmen alle idealistischen Philosophen wie Kant, Hegel, Fichte und Marx überein. Es ist nicht egal, was der Einzelne tut, denn er wirkt daran mit, dass die Welt insgesamt besser wird. Auch im christlichen Sinn: Das Reich Gottes kommt zwar vom Himmel her und kann von den Menschen streng gesehen nicht gemacht werden, aber, so steht es bei Paulus, wir arbeiten doch ein Stück weit daran mit. Wenn wir uns gerne, in Deutschland vielleicht noch ausgeprägter als in Österreich, auslassen über die Politiker und was in der Gesellschaft so schlecht ist: Es gibt tausend Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren und etwas dafür zu tun, dass die Gesellschaft besser wird.
Sie beschäftigen sich sehr viel mit Medien; Film ist mir besonders ins Auge gestochen, Schauspiel und Religion. Wenn ich an den Film „Von Göttern und Menschen“ denke: Das Medium Film kann manchmal mehr vermitteln als eine Predigt.
Valentin: Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Natürlich geschieht es nicht immer so genial und im Sinne der Kirche wie in diesem Film. Aber wenn wir z. B. „Herr der Ringe“ nehmen: Tolkien, übrigens ein Katholik, inszeniert so eine Art großen Endkampf zwischen Gut und Böse. Aber er greift auch das Thema Sucht auf: Frodo verfällt dem Ring; am Schluss schafft er es doch, ihn los zu werden. Golum ist die personifizierte Suchtgestalt, die ihre ganze körperliche Existenz verliert. Auch da werden Fragen von richtigem Verhalten und Abhängigkeit thematisiert. – Tatsächlich muss man den Film ernst nehmen als eine Kunstform, die weltanschauliche Fragen verhandelt.
Auch die Bibel schildert ja in der Frage von Schuld und Schicksal eine ganze Entwicklung, vom Beginn bis ins Neue Testament.
Valentin: Das ist ein spannendes und weites Feld. Zunächst gibt es eine Vorstellung von Gut und Böse, von Belohnung und Strafe, die sich dann im Buch Hiob wandelt. Dort wird das erste Mal deutlich, dass der Gerechte sehr viel leiden muss. Es wird festgestellt, dass der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang, der in den Psalmen besungen wird – der Gerechte ist wie ein Baum, gepflanzt am Wasser, seine Krüge sind immer voll und er hat viele Kinder – aus der Erfahrung einfach so nicht stimmt. Wir müssen damit zurechtkommen, dass die Schönen nicht die Guten sind, dass die Reichen und die, denen es gut geht, nicht die Guten sind, sondern vielleicht umgekehrt, was so sicherlich auch nicht stimmt.
Auf welche Weise führt die Bibel den Gedanken weiter?
Valentin: Es gibt keinen linearen Zusammenhang zwischen moralischer Gutheit und Erfolg oder Schönheit ect. Das hat die religiöse Tradition gesehen. Die Antwort darauf ist im Grunde der Gerichtsgedanke: Wenn jemand schön gerissen ist und immer die richtigen Geschäfte macht oder die Steuer hinterzieht, dann kann es sein, dass es ihm bis zu seinem Lebensende gut geht. Aber das ist nicht das letzte Wort, sondern das, was im Jenseits geschieht. Wo wir sozusagen ganz nackt – denn das Totenhemd hat keine Taschen – nicht nur vor Gott treten, sondern auch den Opfern unseres Handelns begegnen. Der Gerichtsgedanke sagt, dass das, was ich jetzt tue, bedeutsam ist; das es nicht egal ist. Das trägt wesentlich zur moralischen Erziehung bei. Wenn ich mich aber schon jetzt mit den Menschen konfrontiere, die die Folgen meines Handelns tragen müssen, dann werde ich mich auch anders verhalten, weil ich dem Anspruch des Anderen nur schwer entgehen kann. Ein richtiger Dialog ist immer auch einer, aus dem alle mit Lerneffekten oder vielleicht auch positiven Persönlichkeitsveränderungen herausgehen. Gesellschaft, Kirche und Familie tun gut daran, Prozesse des offenen und ehrlichen Austausches zu fördern.
Zur Person:
Univ.-Prof. Dr. Joachim Valentin, geb. 1965 in Deutschland, ist Theologe und Religionswissenschaftler. Nach dem Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Klassischen Philologie in Freiburg im Breisgau spezialisierte er sich auf Religionsgeschichte und Fundamentaltheologie. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Auseinandersetzung von Film und Theologie. Zudem ist Valentin seit 2005 Direktor des Katholischen Zentrums „Haus am Dom“ in Frankfurt am Main und lehrt Christliche Religions- und Kulturtheorie an der Goethe-Universität Frankfurt.