Impulsreferat zum Jahr der Barmherzigkeit von P. Irenäus Toczydlowski
gehalten im September 2015 im Festsaal des Diözesanhauses in Klagenfurt
Das von Papst Franziskus ausgerufene Jahr der Barmherzigkeit ist in erster Linie als ein Jubeljahr zu betrachten:
1. Jubiläum: Mit Freude Versöhnung feiern
Der Ausdruck „Jubiläum“ spricht von Freude: Nicht nur von innerer Freude, sondern von einem Jubel, der sich auch nach außen hin kundtut, da das Kommen Gottes auch ein äußeres, ein sichtbares, hörbares und greifbares Ereignis ist.
Im Jahr der Barmherzigkeit sollen wir die Freude über das Geschenk der Versöhnung erleben: Es ist die Stimmung beim Fest des barmherzigen Vaters, der seinen Sohn wieder empfangen durfte. Es ist aber auch die Freude eines Notleidenden über die erfahrene Wohltat und Rettung.
Für mich ergeben sich daraus einige Fragen und Aufgaben: Wie und wo feiern wir heute sichtbar und spürbar die Versöhnung? Angelehnt an unsere Leitziele können wir sagen: Wir wollen so miteinander feiern, dass auch andere Menschen mit uns beten und mit Gott sprechen wollen. Welche Feierformen gibt es, welche braucht es? Diese Dimension weist auch auf eine gewisse Willkommenskultur hin.
Doch kommt es nicht nur auf das Äußere an: Es ist genauso wichtig, sich in Haltung der Freude zu üben und die innere Einstellung zu haben, um eine Menschen gewinnende, begeisterungsfähige Pastoral zu leben.
2. Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit
Die Barmherzigkeit – das Herzensthema von Papst Franziskus - weist auf den eigentlichen, ursprünglichen Sinn eines solchen Jubeljahres hin: Ein Jubeljahr wird vor allem durch Werke angekündigt. Die alttestamentlichen Vorschriften des Sabbat- und Jubeljahres stellen eine heute immer noch aktuelle Soziallehre dar.
Das Jubeljahr sollte nämlich die Gleichheit zwischen allen Söhnen und Töchtern Israels wiederherstellen, indem es den Sippen, die ihren Besitz und sogar die persönliche Freiheit verloren hatten, neue Möglichkeiten eröffnete.
Den Reichen hingegen erinnerte das Jubeljahr daran, dass die Zeit gekommen war, wo die israelitischen Sklaven, die ihnen wieder gleich geworden sind, ihre Rechte würden einfordern können.
Man sollte in der vom Gesetz vorgesehenen Zeit ein Jubeljahr ausrufen und so jedem Bedürftigen zu Hilfe kommen. Das erforderte eine gerechte Regierung. Nach dem Gesetz Israels bestand die Gerechtigkeit vor allem im Schutz der Schwachen. Das Jubeljahr sollte eben zur Wiederherstellung dieser sozialen Gerechtigkeit dienen.
Das hat einen theologischen Hintergrund: Wenn Gott in seiner Vorsehung die Erde den Menschen geschenkt hatte, so bedeutet das, dass er sie allen geschenkt hat.
Daher müssen die Reichtümer der Schöpfung als gemeinsames Gut aller Menschheit betrachtet werden. Der Mensch ist also nur der Verwalter der Güter, das heißt ein Diener, der verpflichtet ist, im Namen Gottes, des einzigen wahren Eigentümers, zu handeln. In diesem Sinne hat das Jubeljahr auch einen schöpfungstheologischen Charakter.
3. Versöhnung und Prophetie
Eine weitere, wichtige Dimension eines Jubeljahres ist die Versöhnung.
Das Gesetz sah im Sabbatjahr den Nachlass aller Schulden nach genauen Vorschriften vor. Das Jubeljahr war im gewissen Sinne eine Zeit, wo ungerechte Strukturen aufgezeigt wurden und Menschen zum Umdenken, oder genauer gesagt zur Umkehr aufgefordert wurden. Das ist die prophetische Dimension dieser Zeit.
Barmherzigkeit ist nämlich überall dort notwendig, wo Gerechtigkeit nicht ausreicht oder versagt. Insofern steht die Barmherzigkeit im Kontrast zur ungerechten Wirklichkeit da und wirkt in der Wahrnehmung als Anklage und Anregung zum Umdenken und Nachdenken. Ich glaube, dass wir in der prophetischen Dimension dieser Zeit auch einen Auftrag sehen dürfen: Dort wo wir auf ungerechte Strukturen hinweisen, wo wir zum Umdenken beitragen und als Friedensstifter/innen im umfassenden Sinne agieren.
Auf uns als Kirche umgemünzt, könnte das kommende Jahr ein Anlass sein, einige Kriegsbeile zu begraben und eine Gesprächskultur zu entwickeln, die etwaige Kritik als ein Werk der Barmherzigkeit verstehen lässt …
Allerdings soll die Versöhnung im Jubeljahr nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen betreffen, sondern vor allem auch unsere Beziehung zu Gott. Papst Franziskus schreibt an Erzbischof Fischinella: “Ich möchte, dass der Jubiläumsablass jeden als wirkliche Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes erreicht, der allen mit dem Antlitz eines Vaters entgegenkommt, der annimmt und vergibt, indem er die begangene Sünde vollkommen vergisst.” „Das Wort der Vergebung möge alle erreichen und die Einladung, die Barmherzigkeitan sich wirken zu lassen, lasse niemanden unberührt.“
4. Glaube als Beziehungsgeschehen
Die katholische Kirche hat dem alttestamentlichen Jubeljahr mehr eine geistliche Bedeutung gegeben. Sie besteht in einer umfassenden Vergebung und der Einladung, die Beziehung mit Gott und den Mitmenschen zu erneuern. Damit ist ein Heiliges Jahr ein Anlass zur Vertiefung des Glaubens und zu einem erneuerten Lebenszeugnis aus dem Glauben. Es soll eben ein Gnadenjahr werden.
Der Papst schreibt: “Um fähig zu sein, die Barmherzigkeit zu leben, müssen wir also zunächst auf das Wort Gottes hören. Das heißt, wir müssen den Wert der Stille wiederentdecken, um das Wort, das an uns gerichtet ist, meditieren zu können. Auf diese Weise ist es möglich, die Barmherzigkeit Gottes zu betrachten und sie uns anzueignen
und zum eigenen Lebensstil werden zu lassen.”
Ich halte das für einen wichtigen Hinweis: Die Barmherzigkeit ist ein Ausdruck eines von Gott verwandelten Herzens, ist eine Konsequenz der Begegnung mit Gott. Auch hier können und sollen wir in den einzelnen Organisationen und Abteilungen die Glaubensvertiefung mehr unter die Lupe nehmen: Wie können wir Gott wieder ins Spiel bringen? Wie befähigen wir unsere MitarbeiterInnen zum Lebenszeugnis aus dem Glauben?
Denn: Was uns von anderen politischen und kulturellen Organisationen unterscheidet, ist eben unser Glaube,der eine Prägung und eine zum Lebensstil gewordene Barmherzigkeit Gottes ist.
Was Verkündigung im öffentlichen Raum bedeutet, können wir uns an Angela Merkel ein Beispiel nehmen, wenn es darum geht, Mut zu machen und Angst zu nehmen: “Wir haben doch alle Chancen und alle Freiheiten uns zu unserer Religion, sofern wir sie ausüben und an sie glauben, zu bekennen. Haben wir doch auch den Mut zu sagen, dass wir Christen sind; haben wir doch den Mut zu sagen, dass wir da in einen Dialog eintreten; haben wir dann aber bitte schön auch die Tradition, mal wieder in einen Gottesdienst zu gehen
oder ein bisschen bibelfest zu sein und vielleicht auch ein Bild in der Kirche noch erklären zu können.”
Viele Menschen wüssten nicht mehr über christliche Feiertage Bescheid, ergänzte Merkel, die selbst Tochter eines evangelischen Pastors ist.
“Habt Mut!“ ruft der Prophet Jesaja (35,4), „Sagt es den Verzagten – hier ist euer Gott!“ Fürchten wir uns also nicht vor der Herausforderung, die uns zu überfordern scheint. Seien wir mutige Christen, gerufen vom Herrn, hier und jetzt das kommende Reich zeichenhaft in uns und um uns zu verwirklichen. Fürchten wir uns nicht, sondern legen wir Hand an.
5. Pilgerwege und offene Türen
Die nächste Dimension des Jubeljahres ist die des Weges.
Papst Franziskus schreibt: „Wie sehr wünsche ich mir, dass die kommenden Jahre durchtränkt sein mögen von der Barmherzigkeit und dass wir auf alle Menschen zugehen
und ihnen die Güte und Zärtlichkeit Gottes bringen! Alle, Gläubige und Fernstehende, mögen das Salböl der Barmherzigkeit erfahren, als Zeichen des Reiches Gottes, das schon unter uns gegenwärtig ist.“
Es ist also zuerst der Weg in die Welt hinaus, wo das Wort der Versöhnung erfahren werden soll. Ein Gnadenjahr wird ausgerufen. Die Liebe Gottes wird verkündet. Das ist die erste Bewegung, der erste Weg im Jubeljahr: Auf die Menschen zugehen. Allen die “Güte und Zärtlichkeit Gottes zu bringen”!
Die andere Richtung, die als Konsequenz der Verkündigung erlebt wird, ist der Weg zurück, der Weg zu Gott. Deshalb sollte man im Jubeljahr “als Zeichen der tiefen Sehnsucht nach wahrer Umkehr einen kurzen Pilgergang zur Heiligen Pforte zurücklegen.” (Papst Franziskus)
Wir können dabei verschiedene Positionen einnehmen:
▪ Als Wegbereiter/innen und Wegbegleiter/innen
▪ Als Menschen der Kirche, die an den Toren stehen und die Schwellenangst überwinden helfen.
Wie wird es uns gelingen, diejenigen, die sich der Kirche zugehörig fühlen, den missionarischen Auftrag der Kirche zu verdeutlichen? Was bedeutet das kommende Jahr für die Kirche als pilgernde Gemeinschaft?
Was die Heiligen Pforten angeht: Wie deuten wir das Zeichen der offenen Tür auf Gott hin? Wie wollen wir der Schwellenangst, den Hemmungen und offenen Wunden begegnen, die es Menschen schwer machen, wieder die Tür der Kirche zu betreten?
6. Werke/Gesichter der Barmherzigkeit:
Das kommende Jubeljahr soll unter dem Motto “Barmherzig wie der Vater” stehen. Papst Franziskus schreibt: “Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dass die Christen während des Jubiläums über die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit nachdenken.“
Ich bitte Euch, es mir nicht übel zu nehmen, wenn ich in diesem Kreis die katechetischen Grundlagen nenne:
Die leiblichen Werke sind:
▪ Hungrige speisen
▪ Durstige tränken
▪ Fremde beherbergen
▪ Nackte kleiden
▪ Kranke pflegen
▪ Gefangene besuchen
▪ Tote bestatten
Die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit sind:
▪ Unwissende belehren
▪ Zweifelnden raten
▪ Trauernde trösten
▪ Sünder zurechtweisen
▪ dem Beleidiger verzeihen
▪ Unrecht ertragen
▪ für Lebende und Tote beten
Was ist der Grund dieser Werke der Barmherzigkeit? Jesus sagt: "Wir sollen barmherzig sein wie unser Vater im Himmel" (Lk 6,36). Das kann aber nicht nur in Gedanken und Gesinnungen bestehen, sondern muss sich in konkreten Gesten, Handlungen und Taten zeigen. Der Apostel Jakobus sagt das sehr direkt: "Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke
und ich zeige dir meinen Glauben aufgrund der Werke" (Jak 2,18). Ebenso klar lesen wir im 1. Joh: "Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben? Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit" (1 Joh 3,17 f.).
Das Unterlassen von Werken der Barmherzigkeit kommt aus der Verhärtung des Herzens. Wer sein Herz dem Nächsten gegenüber verhärtet, der ist von Gott abgefallen, auch wenn er äußerlich "fromm" bleibt.
Und umgekehrt: Wessen Herz sich der Not des Nächsten nicht verschließt, der ist Gott nahe, selbst wenn er sich selber für einen Atheisten hält und sich als solchen bezeichnet.
Wir haben als Kirche kein Monopol auf Barmherzigkeit. Alle Werke der Barmherzigkeit haben eine gesellschaftliche, politische, öffentliche Dimension. Hungernde speisen, Dürstende tränken, Kranke besuchen: Alles das hat sehr viel mit Strukturen des Erbarmens zu tun, mit Gesetzen, Institutionen, Organisationen, die die Barmherzigkeit gewissermaßen verkörpern. Ohne diese "organisierte Barmherzigkeit" ginge es nicht.
Die katholische Soziallehre hat ein großes Rahmenwerk geschaffen, das die Bedingungen für eine möglichst gerechte Gesellschaft formuliert. Aber es wird dennoch immer der konkreten Barmherzigkeit bedürfen. Es wird nie genügen, die Werke der Barmherzigkeit völlig auf die Institutionen "abzuwälzen". Als Kirche müssen wir auch die geistig-seelische Dimension des Menschen beachten!
Johannes Chrysostomus schrieb vor Jahrhunderten: „In der Kirche gibt es nicht nur leiblich Arme, nicht nur solche, deren Leib hungrig ist oder die leiblich obdachlos sind. Es gibt auch geistlich Arme: Ohne die Speise der Gerechtigkeit, ohne den Trank der Gotteserkenntnis, solche, die das Kleid Christi entbehren. Es gibt Fremdlinge, deren Herz obdachlos ist, solche, deren Mut schwach und hinfällig ist, geistig Blinde, in ihrem Ungehorsam Taube, und Leute, die an verschiedenen geistlichen Krankheiten leiden
und so krank sind, dass ihnen vor jeder Art geistlicher Nahrung graust. Es genügt nicht, die Kranken nur medizinisch professionell richtig zu pflegen, es muss auch die menschliche und geistliche Zuwendung stimmen.
Die Werke der Barmherzigkeit sind kein abgeschlossenes Programm bzw. Gesetz. Um eine Kirche in der Welt von heute zu sein, müsste sich jede Ordensgemeinschaft, Diözese, Pfarre oder Organisationauf die Suche nach neuen, aktuellen Gesichtern der Barmherzigkeit machen, ohne die im Evangelium genannten zu vernachlässigen.
Bischof Joachim Wanke von Erfurt hat anlässlich des Elisabethjahres in seiner Diözese folgende Frage gestellt: Welches Werk der Barmherzigkeit wäre aus Ihrer Sicht heute besonders notwendig? Als Antwort kamen neue Übersetzungversuche der Barmherzigkeit in unsere Gegenwart hinein. Ich möchte die sieben, für Erfurt ausgewählten Werke der Barmherzigkeit aufzählen.
Barmherzig zu sein heißt: Einem Menschen zu sagen:
▪ Du gehörst dazu
▪ Ich höre dir zu
▪ Ich rede gut über dich
▪ Ich gehe ein Stück mit dir
▪ Ich teile mit dir
▪ Ich besuche dich
▪ Ich bete für dich
Im kommenden Jahr müssten auch wir so ein “Update der Werke der Barmherzigkeit” vornehmen, mit der Fragestellung: Welche Gesichter der Barmherzigkeit wir unserer Gesellschaft zeigen möchten? Es bleibt uns dabei aber nicht erspart, sich den alten, traditionellen und für uns höchst aktuellen Werken zu widmen.
In diesen Tagen strömen tausende Menschen unaufhaltsam nach Europa zu. Viele besorgte Stimmen fragen, was das Wort Jesu hier bedeutet: "Ich war fremd und du hast mich aufgenommen? An diesem Beispiel sehen wir noch einmal deutlich: Barmherzigkeit hat auch politische, soziale, gesellschaftliche Dimensionen. Barmherzigkeit ist dort notwendig, wo die Gerechtigkeit versagt bzw. wo Gerechtigkeit allein zu wenig ist.
Die Flüchtlingssituation stellt aber auch Rückfragen an uns. Da ist zuerst die demographische Frage, denn damit hängt unser Zugang zum Schutz des Lebens und Förderung des Lebens zusammen:
▪ Es geht um die Stellung der Familien in unserer Gesellschaft.
▪ Es geht um die Fragen des Arbeitsmarktes und der sozialen Leistungen.
▪ Es geht um unser Konsumverhalten, das bestimmte ungerechte Strukturen schafft.
Es sind auch Fragen wie: Wo nehmen wir dankbar auch das Engagement der Vielen zur Kenntnis,die sich jenseits unserer Weltanschauung einbringen? Gerade in Villach durfte ich feststellen, dass bei der Flüchtlingshilfe Jugendliche da waren, die zu keinem Gottesdienst oder zu Jugendstunden kommen, aber aus ihrem Glauben heraus für andere Menschen restlos eintreten.
Als Kirche können wir die Stimme für die Bedürftigen erheben, und den Menschen ein Plattform der Nächstenlieb anbieten, wo sie ihre Zeit und Mittel einsetzen. Unsere letzten Spendenaufrufe in Villach und Klagenfurt haben unsere Erwartungen und Lagerkapazitäten übertroffen. Ist das nicht ein Zeichen für die Zukunft?
Eine weitere, aktuelle Frage ist: Wie versuchen wir, den Misstönen und Untergriffen Einhalt zu gebieten? Was tun wir gerade angesichts aller nur Angst benennenden Appelle, die mitunter auch aus unseren eigenen Reihen kommen?
7. Wir wollen die Chance dieser Zeit nützen
In diesem Jubiläumsjahr finde in der Kirche das Wort Gottes Echo, das stark und überzeugend erklinge als ein Wort und eine Geste der Vergebung, der Unterstützung, der Hilfe und der Liebe. Die Kirche werde nie müde, Barmherzigkeit anzubieten, und sie sei stets geduldig im Trösten und Vergeben. Sie mache sich zur Stimme eines jeden Mannes und einer jeden Frau und wiederhole voll Vertrauen und ohne Unterlass: “Denk an dein Erbarmen, Herr, und an die Taten deiner Huld; denn sie bestehen seit Ewigkeit ” (Ps 25,6).