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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Von Weihnachten in einer Gesellschaft ohne Arme

Heilsames Scheitern, freudige Liturgie und gerechte Gesellschaftsordnung als heilsame Anstöße aus dem Alten Testament

Heilsames Scheitern, freudige Liturgie und gerechte Gesellschaftsordnung als heilsame Anstöße aus dem Alten Testament

Professor Georg Braulik OSB im SONNTAG-Interview über heilsames Scheitern, freudige Liturgie und gerechte Gesellschaftsordnung als heilsame Anstöße aus dem Alten Testament. (© Foto: Haab / Bearbeitung: KHK-Internetredaktion)
Professor Georg Braulik OSB im SONNTAG-Interview über heilsames Scheitern, freudige Liturgie und gerechte Gesellschaftsordnung als heilsame Anstöße aus dem Alten Testament. (© Foto: Haab / Bearbeitung: KHK-Internetredaktion)
Professor Georg Braulik OSB (© Foto: Haab)
Professor Georg Braulik OSB (© Foto: Haab)

Gibt es eine Verbindung zwischen dem Weihnachtsfest und dem Buch Deuteronomium, zu dem Sie im November in Tainach referiert haben?
Braulik: Das Buch Deuteronomium, das sogenannte fünfte Buch Moses, wird in der Weihnachtsliturgie nicht gelesen. Dennoch ist es als die Theologie der Liebe zwischen Gott und seinem Volk mit der Botschaft von Weihnachten verbunden. Das alttestamentliche Israel ist ja Gottes „erstgeborener Sohn“ (Ex 4,22). Nach dem Deuteronomium ist es „das Volk, das ihm persönlich gehört“, das „er ins Herz geschlossen hat“, und weil er es „liebt, aus dem Sklavenhaus freigekauft“ (Dtn 7,6-8), also erlöst, hat. Das alles bekennen wir auch von Jesus, dem geliebten Sohn Gottes, den er aus dem Tod gerettet und erhöht hat. Wenn wir am achten Tag nach Weihnachten, am Neujahrstag, auch der Beschneidung Jesu gedenken, gibt es auch hier eine Verbindung zum Deuteronomium. Denn wenn Israel einmal das Gesetz Gottes übertreten, den Bund vom Sinai gebrochen hat und in die Verbannung ziehen musste, sich dort aber bekehrt, dann – so verheißt das Deuteronomium – wird „der Herr, dein Gott, dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden. Dann wirst du den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben können, damit du Leben hast“ (Dtn 30,6). Das Gebot der Gottesliebe steht zwar schon zu Beginn des Deuteronomium: „Höre Israel! Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben …“ (Dtn 6,4-5). Aber erst jetzt, nach seinem Scheitern, erreicht das Volk Gottes durch die Herzensbeschneidung sein eigentliches Ziel – dass es Gott wirklich liebt. Das geschieht, indem es die Gebote Gottes, seine Sozial- und Gesellschaftsordnung, das Wunschbild Gottes von seinem geliebten Volk, verwirklicht.

Das heißt: Auch durch ein Scheitern hindurch wächst die Liebe Gottes?
Braulik: Ja, Gott bleibt auch dem sündigen Volk treu, er „wird sein Schicksal wenden und sich seiner erbar­men“ (Dtn 30,2). Ein wenig später heißt es vom Volk: „Du wirst umkehren, auf die Stimme des Herrn hören und alle seine Gebote halten“ (Dtn 30,2.8).

Wir verstehen Gebote heute aber eher als Einschränkungen.
Braulik: Nach der Bibel ist das anders. Schon die Einleitung in die Zehn Gebote spricht vor der Verpflich­tung auf die Gebote zunächst von der Befreiung, der Erlösung: „Ich, der Herr, bin dein Gott, der dich aus Ägypten, herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Dtn 5,6). Die Zehn Gebote, die an dieses „Vor-Wort“ anschließen, sind nichts anderes als die dankbare Antwort auf die Rettung aus der Sklaverei und die Voraussetzung, um die gewonnene Freiheit auf allen Gebieten des Lebens bewahren zu können.

Hat das etwas mit unserem „Weihnachtsfrieden“ zu tun?
Braulik: Wenn Sie Frieden im umfassenden Sinne von Heil, Schalom, verstehen, kann man das durchaus sagen.

Unter Ihren Impulsen in Tainach hieß einer: „Lust auf Gott. Das Volk Gottes, das aus dem Fest heraus geboren wird.“ Das klingt viel lustvoller, als Kirche normalerweise erfahren wird.
Braulik: Nach dem Deuteronomium erlebt das Gottesvolk den Höhepunkt seiner Freude an den jährlichen Wallfahrtsfesten im Heiligtum von Jerusalem. Da heißt es zum Beispiel vom herbstlichen Erntefest: „Das Laub­hüttenfest sollst du sieben Tage lang feiern, nachdem du das Korn von der Tenne und den Wein aus der Kelter eingelagert hast. Du sollst an deinem Fest fröhlich sein, du, dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd, die Leviten und die Fremden, Waisen und Witwen“ (Dtn 16,13-14). Oder wenn im Jerusalemer Tempel ein Opfer dargebracht wird: „Dort sollt ihr vor dem Herrn, eurem Gott, Mahl halten. Ihr sollt fröhlich sein aus Freude über alles, was eure Hände geschafft haben“ (Dtn 12,7). Die Freude wurzelt also in der Liturgie. Dort ist sie in das gemeinsame Mahl hineingezogen. Dabei es geht allerdings nicht um ein profanes Mahl, sondern darum, „sich vor dem Herrn zu freuen“. Dieses „vor Gott“ rührt an die Mystik der Gottesbeziehung. Das Neue Testament würde statt „vor Gott“ sagen „in Christus“. Das Entscheidende geschieht also nicht beim Opfer am Altar, sondern im gemeinsamen freudigen Mahl. Dabei sind alle Klassenbarrieren beseitigt, soziale Unterschiede gelten hier nicht mehr, alle nehmen teil, ob sie nun etwas dazu beitragen konnten oder nicht. Man ist nur noch voll Freude, dabei aber ist man vor Gott, lebt ganz in dieser mystischen Einheit. Das ist das Ziel der Liturgie. Zugleich ist es eine Vorwegnahme dessen, was das Deuteronomium an anderer Stelle als geschwisterli­che Gesellschaft entwirft, in der es keine Fremden und Bedürftigen mehr zu geben braucht.

Die weihnachtliche Herbergssuche erhält heuer durch die Flüchtlingsproblematik ganz neue Aktualität. Was gibt uns das Deuteronomium dazu an die Hand?
Braulik: Es hat dazu einen wunderbaren Text: „Gott liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben“ (Dtn 10,18-19). Fremdenliebe ist also Nachahmung Gottes. Auch zum Flüchtling findet sich im Deuteronomium eine Regelung: Wenn ein fremder Sklave aus welchen Gründen auch immer seinem Herrn entflieht – und „Sklave“ reicht vom Minister bis zum Knecht –, dann muss er in Israel aufgenommen werden. Er hat ein einzigartiges Privileg: Er kann sich selbst den Ort aussuchen, wo er künftig wohnen will. Außerdem darf er nicht ausgebeutet werden (Dtn 23,16-17). Das alles ist einmalig im Alten Orient. Der Fremde und Flüchtling soll in Israel, im Volk Gottes, als gleichberechtigter Bruder behandelt werden.

Fremdenangst findet sich dort also nicht?
Braulik: Der Fremde gehört im Alten Orient mit den Witwen und Waisen zu den sozialen Randgruppen. Sie haben keinen Bodenbesitz, somit fehlt ihnen in einer agrarischen Gesellschaft die Existenzgrundlage. Die Sozialordnung des Deuteronomium holt sie nun aus dieser Armenrolle. Zum Beispiel verlangt es, dass der Zehnte, der normalerweise an den Tempel abgeliefert wurde, in jedem dritten Jahr im Wohnort verbleibt und der Ernährung der Fremden, Witwen und Waisen dient. Das ist kein Almosen, sondern ein Rechtsanspruch auf Lebensunterhalt. Durch diese und andere Maßnahmen konstruiert das Deuteronomium eine Gesellschaft ohne Arme. Nicht zuletzt haben Fremde, Witwen und Waisen teil an den Höhepunkten des Lebens, den gemeinsamen Festen im Jerusalemer Heiligtum (Dtn 16,11.14). Und erst in ihrer Gemeinschaft kommt es – ich sagte es schon – zur „Freude vor Gott“.

Interview: Georg Haab

 

Zur Person:

Georg Braulik OSB, geb. am 20. Juni 1941 in Wien, trat nach dem Besuch des Schottengymnasiums 1959 in die Schottenabtei der Benediktiner ein. 1965 zum Priester geweiht. 1966 promovierte er in Wien in neuer Kirchengeschichte, 1973 in Bibelwissenschaft. Bis 2004 war Braulik Universitätsprofessor für Alttestamentliche Bibeltheologie; sein Wirken wurde mit mehreren internationalen Auszeichnungen gewürdigt.

Georg Braulik leitete den Studientag zum Alten Testament in Tainach Anfang November.