Organisation

Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Unterwegs am Tagliamento

Eine persönliche Endeckungsreise zu einem Fluss von berauschender Schönheit und ehrfurchtgebietender Majestät.

Bildunterschrift (Bildrechte sind zwingend anzugeben!)

Ihr Buch zum Tagliamento ist offensichtlich ebenso faszinierend wie der Fluss selbst ...
Freudenberger: Ich war überrascht, als der Verlag mich im Herbst bat, das Buch zu aktualisieren. So sind wir – meine Frau ist wesentlich am Gelingen des Buchs beteiligt – wieder hingefahren, um zu erkunden, was sich verändert hat. Ich habe auch nicht gespart mit Anmerkungen und Hinweisen auf andere Autoren. Z. B. gibt es in Karnien einen schönen Kirchenweg, den „Cammino delle Pievi“, von dem ich drei Etappen beschrieben habe. Dazu gibt es ein eigenes, großartiges Buch von Birgit Kaltenböck, einer Salzburger Journalistin. Ich habe es als Hinweis mit hineingenommen.

Sie beschreiben den Tagliamento als den „König der Alpenflüsse“. Sie haben ihn als sehr majestätisch erlebt?
Freudenberger: Majestätisch, aber auch unberechenbar. Man hatte geplant, Hochwassereinrichtungen zu bauen. Aber nicht nur wegen des Naturschutzes, sondern auch wegen der unberechenbaren Auswirkungen auf die Grundwassersituation in Friaul hat man bis heute davon abgesehen, den König zu zähmen.

Was macht diesen Fluss für Sie so einzigartig?
Freudenberger: Klement Tockner, ein Gewässerökologe, hat sich intensiv damit befasst. Er sagt, der Tagliamento bestehe eigentlich aus zwei Flüssen übereinander. Das Material, das der Fluss in der nördlichen Ebene von Friaul ablagert, ist sehr grob. Dort ist ein bis zu 200 Meter tiefes Reservoir an Grundwasser im locker geschichteten Gestein, die Oberfläche erscheint aber trocken. Im Süden der friulanischen Ebene gibt dann es eine Schicht von Lehm und Löss. Dort staut es sich, das Wasser wird aus dem Reservoir in der Tiefe wieder an die Oberfläche gedrückt. Es entstehen daraus drei neue Flüsse – neben dem Tagliamento der Famo und die Stella: Flüsse, die sozusagen aus dem Nichts kommen und plötzlich als großer Fluss da sind. Faszinierend ist auch, was das Wasser aus dem alpinen Raum an endemischen Pflanzen mitgebracht hat!

Ein eigener, kleiner Kosmos, der auf diese Weise dort entstanden ist?
Freudenberger: Der Fluss hat das Land gestaltet und auch ständig verändert. Im Norden hat er den groben Schotter abgelagert, das Geschiebe, dann das immer feinere, und schließlich den ganz feinen Sand, der die schönen Badestrände und die Lagunen ausgebildet hat. Sabbiadoro gäbe es nicht ohne Tagliamento.

Wo der Fluss in die Ebene tritt, in seinem breiten Schotterbett mäandriert und mit dieser unglaublichen Farbe spielt, wähnt man sich in einem fremden, fernen Land.

Ihre Leidenschaft ist das Wandern am Fluss. Was bringt Sie zum Schwärmen?
Freudenberger: Wenn man in den Auen unterwegs ist, könnte man vergessen, dass man in Italien ist. Die Landschaft erinnert in ihrer Erhabenheit an eine Wüste, eine Steppe, die Serengeti. Es ist so archaisch: Steht man im Schotter des Flusses, ist alles so, wie es wahrscheinlich seit der Eiszeit war: Man sieht nur das Buschwerk, die Pflanzen, die schönen Steine, in der Ferne die Berge ... Faszinierend. So, wie er vom Passo della Mauria kommt, solche Flüsse gibt es bei uns auch. Aber wo er in die Ebene tritt und dann, wie die Fella, im letzten Teil in seinem breiten Schotterbett mäandriert und mit dieser unglaublichen Farbe spielt, wähnt man sich in einem fremden, fernen Land, obwohl man in zwei Stunden mit dem Zug dort ist.
Einmal sind wir am Abend nochmals in das Schotterbett hinaus; die Steine haben das weiße Mondlicht reflektiert, dazu Büsche und die kleinen Rinnsale, das Quaken der Frösche. Kein Auto, kein Lärm, wirkliche Stille – unglaublich schön.

Gibt es neben den landschaftlichen auch architektonische Highlights?
Freudenberger: Im zweiten Teil des Buchs geht es um die Nebenflüsse des Tagliamento. Die Architektur ist etwas, was mich an Karnien fasziniert: diese Häuser, die ganz anders gebaut sind als bei uns. Die Römer haben mit Stein gebaut, die Kelten mit Holz – in Karnien haben wir die gelungene, wirklich schöne Kombination aus Stein und Holz und Formen, an die man sich über Jahrhunderte gehalten hat. Alle sind hoch gebaut, haben in mehreren Etagen einen durchgezogenen Balkon, alles ist sehr platzsparend, es ist wenig zersiedelt – anders als in Kärnten.

Bischof Klaus Hemmerle sagte, man solle die Welt mit „Osteraugen“ sehen. Mit welchen Augen wünschen Sie, dass man dieses Buch liest?
Freudenberger: Wer sich auf den Weg zum Tagliamento macht, ist vielleicht jemand, der von den unterschiedlichen Eindrücken begeistert ist, die die Landschaft bietet und die ich beschrieben habe: von den archaischen Eindrücken der Landschaft, den unterschiedlichen Lichtverhältnisse und Stimmungen, die das Wasser bietet ... Jemand anderes ist vielleicht inspiriert von dem, was die Flora und die Fauna zu bieten haben. Auf dem Weg von Uggovica bis zum Meer passiert man Millionen Jahre, erdgeschichtlich betrachtet. Die Verschiedenheit der Gesteine spiegelt sich auch in den Flüssen wider, ein Dorado für Geologen.
Wandern, Bootwandern ... es gibt so viele Zugänge! Auch Experten für Flussrenaturierungen studieren den Tagliamento. Das ärgert mich übrigens: Wir betonieren alles zu, wir vergiften die Umwelt mit Pestiziden – und dann argumentiert man auf EU-Ebene, dass wir es uns nicht leisten können, einen kleinen Prozentsatz an Natur zurückbilden zu können, um Lebensmittelknappheit zu vermeiden. Da möchte ich mich auch irgendwohin kleben ...

Interview: Georg Haab

Buchtipp: Werner Freudenberger, Am Tagliamento. Den letzten Wildfluss der Alpen entdecken. Zweite, überarbeitete Auflage, Styria (2023). 192 Seiten, Softcover, € 28,00.

Zur Person: Werner Freudenberger, geb. in Hermagor, langjähriger Redakteur, Programmgestalter und Moderator beim ORF; schuf über 40 Fernsehdokumentrationen zu Kultur und Natur des Alpen-Adria-Raums und ist Autor mehrerer Bücher.