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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Es gibt gute Gründe,  nicht aus der Kirche auszutreten

Christian Kuster, Theologe, Lehrer und Autor, zur aktuellen kirchlichen Situation und weshalb er dennoch nicht aus der Kirche austritt

Foto: Christa Kuster; Hintergrund: Giotto di Bondone, Papst innozenz“ Traum

Sie haben in einem Manuskript „KirchenauFtritt“ Gründe gesammelt, weshalb Sie nicht aus der Kirche austreten. Was hat Sie dazu bewegt?
Kuster: Die momentane Situation der Kirche in Deutschland und Österreich, die Schreckensszenarien, die wir über die Medien zu hören und zu sehen bekommen, sind für mich sehr erschütternd. In der Folge wenden sich sehr viele Menschen von der Kirche ab. Auch ein sehr guter Freund von mir, der jahrelang die Kirche in seinem Ort und überregional aktiv mitgestaltet hat, ist ausgetreten. Da denke ich mir: Das kann ja nicht alles sein, Kirche ist doch viel mehr als eine Ansammlung von Perversionen.

Unter den guten Gründen, nicht auszutreten, nennen Sie auch den, dass die Kirche reformwillig sei. Gerade was Missbrauch angeht, hat man aber immer mehr das Gefühl, die Amtskirche lerne wirklich nichts hinzu – siehe den aktuellen Missbrauchsbericht der deutschen Diözese Freiburg und das Verhalten des damaligen Bischofs Zollitsch. Woher Ihre ganz andere Sicht?
Kuster: Es geht nicht anders: Wenn die Kirche Kirche bleiben möchte, wird sie eine „ecclesia semper reformanda“, eine „immerwährend sich reformierende Kirche“, sein müssen; eine Kirche, die umkehrt und sich auf das Wesentliche konzentriert, sonst wird sie keinen Bestand haben. Das beginnt bei uns, bei jedem einzelnen, das ist nicht delegierbar. Bischof Zollitsch muss für sich geradestehen, wir müssen für uns geradestehen.

Wenn Sie schreiben, dass Kirche für Sie eine Säule der Wahrheit sei, spricht daraus ein anderes Kirchenverständnis als das, welches uns gewöhnlich in Gesprächen begegnet. Was ist für Sie „Kirche“?
Kuster: Wir haben sicherlich ein verzerrtes Bild von „Kirche“, so wie sich dies uns gegenwärtig präsentiert. Ich sehe Kirche sehr von Christus her, der sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Der Mensch in der Kirche, der sich an Jesus orientiert, wird selbst in gewisser Weise zu einer Säule der Wahrheit. Jesus spricht uns ja zu: „Ihr seid das Licht der Welt.“ Ich denke, dass solche Visionen viel zu kurz kommen; sie haben die gleiche Berechtigung wie die Hiobsbotschaften. Menschen wie die 1964 verstorbene Sozialarbeiterin und Mystikerin Madeleine Delbrêl, die in die Armutsviertel von Paris gegangen ist und dort gelebt hat, leben Kirche. Das ist für mich Kirche.

Sie denken bei „Kirche“ also weit über die Amtsträger hinaus, versuchen sie in ihrer spirituellen Dimension her zu sehen?
Kuster: Amt und spirituelle Dimension müssen sich ja nicht zwingend widersprechen. Ich habe das Amt auf meinem Lebensweg oft sehr positiv erlebt. Ich bin nicht missbraucht worden, habe bis heute immer wieder sehr liebenswerte und kompetente Pfarrer erlebt, von klein auf und auch in den Pfarren, in denen ich selbst tätig war und bin. Das mag etwas naiv sein, aber auch das ist Kirche.
Ich kenne auch die andere Seite, kenne Menschen, die Missbrauch erlebt haben, und auch einen, der wegen Missbrauchs verurteilt worden ist. Das erschüttert mich durch Mark und Bein. Aber Robert Köhler, der Gründer des bayerischen Vereins „Wir wissen Bescheid“ und selbst Missbrauchsopfer, sagt: 80 Prozent aller Missbräuche finden in den Familien statt. Jeder einzelne Fall ist zu viel, trotzdem sollten wir deshalb nicht die gesamte Kirche verurteilen. Nicht alle, die mir in der Kirche begegnen, sind pädophil, machtgierig oder verlogen. Es gibt ganz viel lautere Menschen in der Kirche ...

... die aber samt den Sündenböcken pauschal abgeurteilt werden?
Kuster: Wenn ich an unsere Gemeinde denke, wie viele Menschen da liebevoll tätig sind und sich um Flüchtlinge kümmern, um Nachbarn, um Kinder ... So viele gute, anständige Menschen engagieren sich, aber davon redet man nicht.

Sie erfahren die kirchliche Gemeinschaft als Kraftquelle?
Kuster: Martin Buber, kein Christ, hat gesagt: „Alles Wirkliche ist Begegnung.“ Darauf möchte ich nicht verzichten. Die Kirche ist „communio“, sie ist in erster Linie Gemeinschaft. Schon in der Apostelgeschichte wurde beschrieben: Sie hatten alles gemeinsam, sie brachen das Brot. Das kann ich schwer allein, ich brauche als Christ Beziehungswelten, in denen ich mich geborgen fühle, die auch meine Interessen teilen.
Daher macht es Sinn, meinen Glauben bei Glaubensgeschwistern zu verankern. Ich bin ja in die Gemeinschaft der Kirche hinein getauft, den Leib Christi. Darauf möchte ich nicht verzichten. Auch der hl. Franziskus hat die Kirche geliebt, er hat sie als seine Mutter bezeichnet – trotz der massiven Skandale seiner Zeit. Er hat die Kirche nicht vom Menschlich-Fehlbaren her gesehen, sondern vom Sakramentalen, vom Göttlichen, vom Glauben her.

Auch wenn sie ihm das Leben manchmal schwer gemacht hat?
Kuster: Er hat sie tatsächlich von innen reformiert. Papst Innozenz III. – er war der reichste und mächtigste Papst der Kirchengeschichte, glaube ich – hatte ja einen Traum von einem Mann, der im Kirchengebäude steht und es am Einstürzen hindert – deshalb hat er Franziskus die Ordensregel ermöglicht. Franziskus hat deutlich unterschieden zwischen der Schuld, die von Menschen kommt, und der Heiligkeit, die von Gott kommt.
Ich habe das Skriptum mit meinen Gedanken zum „KirchenauFtritt“ auch meinen Schüler:innen vorgestellt. Und sie unter anderem gefragt, wie sie „Kirche“ sehen, was sie für sie bedeutet. Von zehn haben acht die Kirche positiv gesehen, als göttliche Institution, obwohl Jugendliche eigentlich viel kritischer sind als wir. Sie bringen Kirche mit Gott in Verbindung, was ja auch ihr Wesen ist: Kirche kommt vom griechischen kyriakè, die dem Herrn Gehörige. Und sie sagen: Das brauchen sie, sie möchten christlich heiraten und auch ihre Kinder christlich erziehen.

Ihren Schüler:innen ist es sozusagen gelungen, die Kirche als das zu sehen, als was sie ursprünglich gedacht ist. Und sie nehmen wahr, dass die Realität nicht eindimensional ist, sondern dass es zwischen schwarz und weiß und noch viele Zwischentöne und Farben gibt?
Kuster: Wie wir alle wissen, ist die Kirche von Anfang an sehr fehlerhaft. Schon Petrus hat seinen Herrn verleugnet, Judas hat ihn verraten, und die Jünger haben darüber gestritten, wer der Größte sei.

Darüber streiten sie heute noch ...
Kuster: Die Offenbarung des Johannes spricht von den lauen und lieblosen Gemeinden. Das hat es offensichtlich damals schon gegeben und wird es auch weiterhin geben. Das ist traurig, aber Realität. Kirche ist nicht das Reich Gottes, sie ist nicht Gott, aber sie verweist auf Gott. Und: Jesus hat als gläubiger Jude gelebt und ist als solcher gestorben, er ist seinem Volk treu geblieben. So wird er auch seiner Kirche treu bleiben. Es ist sein Wesensmerkmal, dass er treu ist. Mir ist klar, dass viele Menschen gehen müssen. Wie Papst Franziskus gesagt hat: „Nicht, wer nicht glaubt, macht sich schuldig, sondern wer seinem Gewissen nicht folgt.“ Das kann zum Austritt führen, aber mein Weg ist der in der Kirche.

Interview: Georg Hab

Zur Person: Christian Kuster (* 1965) ist Religionslehrer, Liedermacher, Erwachsenenbildner und Autor. Der gebürtige Kärntner ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Bayern. Besonders gefragt sind seine Bücher zu Bibel und christlicher Lebenspraxis sowie zum Thema „Mann sein“. Aktuell hat er in einem Manuskript „KirchenauFtritt“ sechzehn Gründe festgehalten, der Kirche treu zu bleiben.