Die Herausforderung, keine Stimme zu haben
Gehörlosenseelsorgerin Maria Schwendenwein und Dagmar Schnepf, Leiterin des Kärntner Gehörlosenverbands, zu den besonderen Herausforderungen der aktuellen Situation
Die aktuelle Krise betrifft alle, dennoch werden manche besonders betroffen. Welche Einschränkungen erfahren speziell gehörlose Menschen?
Schnepf: Die größten Einschränkungen liegen aufgrund der Mundschutzpflicht in der Kommunikation: Die Hälfte vom Gesicht wird verdeckt, dadurch gehen uns das Mundbild und die Mimik ab. Und die zweite Einschränkung ist die Empfehlung der Regierung, keine Veranstaltungen durchzuführen. Wir holen uns nämlich die Informationen und den Austausch in unseren regelmäßigen Treffen bzw Versammlungen im Gehörlosenzentrum.
Schwendenwein: Alte Menschen sind in dieser Zeit sehr einsam, sie haben meist keinen Zugang zu den technischen Mitteln und sind dadurch schwer erreichbar. Bei den Gottesdiensten haben wir uns in der Osterzeit oft an Deutschland angeschlossen, wo es mehr Möglichkeiten gibt. Dem ORF war es nicht möglich, mehr Sonntagsgottesdienste zu gebärden oder zu untertiteln. Wobei zu beachten ist, dass Untertitel geschriebene Sprache sind, und auch da gibt es Einschränkungen, weil sie für Gehörlose nicht die Muttersprache ist.
Die Muttersprache der Gehörlosen ist sozusagen die Gebärdensprache?
Schwendenwein: Ja, allerdings ist diese weder international noch österreichweit gleich: Sie lebt von Generation zu Generation, von Bundesland zu Bundesland. Gehörlose selbst können sich damit untereinander sehr gut verständigen. Hörende, die darin nicht so firm sind, haben es schwer, wie bei jeder Fremdsprache. Dolmetschausbildungen gibt es verschiedene, auch die Universitäten bieten welche an.
Schnepf: Die Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache und wurde 2005 auch als solche anerkannt.
Worin unterscheidet sich Schwerhörigkeit von Gehörlosigkeit?
Schwendenwein: Schwerhörige nehmen die Sprache über das Ohr auf, sie brauchen dazu vielleicht ein Hörgerät und ein deutliches Mundbild. Gehörlose dagegen leben in einer Welt, in der es keine Laute gibt – kein Vogelgezwitscher, kein Autolärm. Zur Verständigung sind sie an Mundbild und Mimik gebunden und an Gebärden. Wenn ich z. B. für Gehörlose in einer Ausstellung übersetze, muss der Führer kurz reden, denn sie müssen während der Erklärung zu mir schauen und dann erst zum Kunstwerk, weil alles über die Augen geht.
Wo liegen in der Seelsorge momentan die Herausforderungen?
Schwendenwein: Wir schicken jede Woche über hundert Mails und Whatsapp-Nachrichten und 30-40 SMS aus: Damit erreiche ich viele, aber nicht alle. Deshalb gehe ich einmal in der Woche ins Büro und schreibe Briefe an die, die technisch nicht so versiert sind. Damit sie z. B. wissen, dass im Teletext auf Seite 776 steht, wo es einen Gottesdienst mit Gebärden gibt. Bei uns in Österreich gibt es leider sehr wenige. Auch wenn dabei die Gebärden z. B. der Oberösterreicher andere sind als die der Wiener, lieben die Gehörlosen die Gebärden doch viel mehr als die Untertitel.
Wie unterscheidet sich die Gebärdensprache von der gesprochenen Sprache?
Schwendenwein: Gebärdensprache ist eine eigene Sprache mit eigener Grammatik, Handzeichen und Mimik. In der Regel werden nur ganze Wörter und Sätze wiedergegeben, keine Buchstaben. Gesprochene Sätze werden dazu vereinfacht und umgestellt, Artikel und Fälle gibt es nicht. Für bestimmte Begriffe oder Namen werden Bilder verwendet, verwendet, die für eine Person charakteristisch sind, für Wolfgang Schüssel z. B. das Mascherl.
Wie kann man sich ohne Gebärdendolmetsch verständigen?
Schwendenwein: Wird Schriftsprache verwendet – das gilt auch für Untertitel im Fernsehen –, dann muss sie leicht verständlich sein, ohne abstrakte Begriffe, kurze Sätze. Aber eigentlich ist das so, als würden wir ein Buch in einer Fremdsprache lesen – man legt es sehr schnell weg oder lässt Details beiseite. Ähnliche Einschränkungen gibt es beim Lippenlesen, man kann dabei nur 20-25 Prozent des Gesagten erfassen. Man kann z. B. nicht sehen, ob jemand Mutter oder Butter sagt. Dazu kommt, wenn Gehörlose selbst sprechen, dass sie ihre Aussprache ja nicht kontrollieren können, weil sie sich selbst nicht hören. Das kann dann krächzend klingen oder zu laut. Aber es ist delikat, jemanden darauf hinzuweisen.
Wie gestalten Sie Ihre seelsorgliche Tätigkeit für gehörlose Menschen?
Schwendenwein: Es ist eine erfüllende Tätigkeit, die viel Einsatz verlangt, aber auch viel Freude schenkt. Für die Liebe, die man schenkt, erhält man viel Dankbarkeit zurück. An sich ist sie wie jede Pfarrseelsorge, die aber in der Diaspora geschieht, weil die Menschen ja verstreut leben und zum Gottesdienst zusammenkommen. Die älteren Gehörlosen, die nicht allein kommen können, werden mit Fahrtendienst gebracht oder von Gehörlosen besucht. Wichtig ist, ihnen anzubieten, was sie brauchen: Bibel in einfacher Sprache, Gottesdienste in einfacher Sprache. Aber Vorsicht, nicht in Leichter Sprache, das ist etwas Anderes, und natürlich mit Gebärden: Es braucht immer sichtbare Aufbereitungen. Genauso bei der Sakramentenvorbereitung und -spendung. Es ist wichtig, sich viel Zeit für sie zu nehmen, mit ihnen mitzuleben, sie die Liebe spüren lassen, das ist manchmal wichtiger als nur Gebärden.
Was hat Ihnen heuer in den Kar- und Ostertagen am meisten gefehlt, und was sind Ihre Wünsche an die Seelsorge?
Schnepf: Speziell für den Bereich der gehörlosen Menschen wünschen wir uns gebärdensprachkompetente Seelsorger, die Verständnis und Geduld haben. Besonders gefehlt haben mir die Palmweihe und die Speisensegnung in der Gemeinschaft mit anderen gehörlosen Menschen, wo wir mit Freude auf die kommende Zeit schauen. Und das gemeinsame Eierfärben mit den Kindern, mit gehörlosen, hörenden und Geschwistern; danach haben wir immer gerne Personen mit einem kleinen Präsentpackerl überrascht.
Interview: Georg Haab
Zur Person:
Dr. Maria Schwendenwein, geb. 1939, ist die dienstälteste Gehörlosenseelsorgerin Österreichs. 1961-2000 Religionslehrerin im Gehörloseninstitut und Seelsorgerin für gehörlose Jugendliche und Erwachsene. Seit 1974 Leiterin der Gehörlosenseelsorge der Erzdiözese Wien, sie vernetzt auch die Gehörlosenseelsorger Österreichs.
Dagmar Schnepf, geb. 1978, ist selbst gehörlos. Sie ist Gebärdensprachassistentin in der Schule und Leiterin des Gehörlosenverbands Kärnten.
Info:
Gottesdienste mit Gebärdensprache finden Sie im Teletext auf Seite 776. Tipp: Das ZDF überträgt momentan alle Gottesdienste mit Gebärdendolmetsch, zu finden unter www.zdf.de/gesellschaft/gottesdienste.
In Kärnten wird eine neue Lösung für die Gehörlosenseelsorge gesucht. Wenn Sie Interesse haben, wenden Sie sich bitte an die Gehörlosenseelsorgerin Gerda Heger, Tel. 0676/8772 2119 oder gerda.heger@kath-kirche-kaernten.at.