Das christliche Erbe der Psychotherapie
Psychotherapie und Seelsorge - Konkurrenz oder gegenseitige Bereicherung?

Ein Mensch liegt mit dem Rücken auf einem Sofa und spricht einen Monolog. Ein zweiter sitzt außerhalb von dessen Gesichtskreis und macht schweigend Notizen. Diese Szene kennen wir aus Filmen, sie hat unsere Vorstellung von Psychotherapie geprägt. Heutige Psychotherapie sieht meistens deutlich anders aus: Zwei Personen sitzen in bequemen Sesseln und unterhalten sich miteinander. Wir müssten schon ein wenig zuhören, um zu bemerken, dass es hier um kein Alltagsgespräch geht.
Der Unterschied lässt erahnen, dass sich in den letzten hundert Jahren in Psychologie und Psychotherapie viel verändert hat. Die klassische Psychoanalyse, deren Markenzeichen die Couch ist, ist zwar nicht ausgestorben, wird aber wohl nur mehr in geringem Ausmaß praktiziert.
Dennoch wirkt die unreflektierte Identifizierung von Psychoanalyse und Psychotherapie immer noch nach. In kirchlichen Kreisen zeigt sich dies häufig in einem latenten Misstrauen der Psychotherapie gegenüber, was insofern verständlich ist, als sich Sigmund Freud als unreligöser Mensch verstand, der Religion als Illusion und kollektive Neurose bezeichnete. Andererseits bezeichnet Freud selbst in Briefen an den Pfarrer Oskar Pfister die katholischen Seelsorger als „unsere Vorgänger in der Psychoanalyse“. Er möchte die Psychoanalytiker als „weltliche Seelsorger“ sehen. In dieser Sicht tritt die Psychotherapie in Konkurrenz zur kirchlichen Seelsorge und wird auch so empfunden. „Die Beichtstühle werden immer leerer, die psychotherapeutischen Praxen immer voller“, lautet eine gängige Einschätzung.
Mir als Priester und Psychotherapeuten scheint diese Sicht reichlich verkürzt. Zum einen hat die Beichtstuhlbeichte wenig Ähnlichkeit mit der Praxis einer therapeutischen Sitzung, und zum andern ist die Psychotherapie nicht wirklich aus der Seelsorge erwachsen, sondern aus der Medizin. Mehr Gemeinsames sehe ich schon zwischen der alten Tradition geistlicher Begleitung und der psychotherapeutischen Behandlung, denn bei beiden geht es um die Entwicklung der Persönlichkeit, wenn auch unter sehr verschiedenen Rahmenbedingungen.
Veränderung kommt in Gang durch bedingungslose Wertschätzung, Echtheit und Empathie.
Carl R. Rogers, Begründer der Klientenzentrierten Psychotherapie, der wohl verbreitetsten Schule der Psychotherapie, sieht das grundlegend Heilsame in der psychotherapeutischen Arbeit in einer positiver Beziehung, die der Therapeut dem Klienten anbietet. Rogers formuliert drei Charakteristika, die eine solche hilfreiche Beziehung aufweisen muss: bedingungslose Wertschätzung, Echtheit und Empathie. Gelingt dies, so kann sich der Klient seinen seelischen Problemen und Konflikten zunehmend angstfrei zuwenden, wodurch der Veränderungsprozess erst in Gang kommt. Bei der Beschreibung dieser heilsamen Beziehung verweist Rogers darauf, dass diese Beziehung deckungsgleich ist mit dem, was im Christentum mit Agapè, Nächstenliebe, gemeint ist.
Aus meinem Blickwinkel als Theologe und Psychotherapeut betrachtet, ergibt sich die überraschende Situation, dass in der heutigen Psychotherapie durch die praktische Erfahrung mit den leidenden Klienten ein zutiefst jesuanisches Prinzip wiederentdeckt wurde, nämlich dass bedingungslose liebende Zuwendung Grundlage für Heilung ist.
Dieser Zusammenhang von therapeutischer Erfahrung und dem zentralen christlichen Grundwert der Agapè wird in der psychotherapeutischen Reflexion noch kaum wahrgenommen. Sie scheint hier einen blinden Fleck zu haben, dessen Erhellung zum Selbstverständnis Wesentliches beitragen würde. Umgekehrt sollte die Erkenntnis dieses Zusammenhangs in der Kirche die Neugier wecken, die Einsichten der modernen Psychotherapie auch vermehrt in die kirchliche Seelsorge aufzunehmen.
Robert Katnik, Priester der Diözese Gurk und Psychotherapeut in Klagenfurt
Drei Fragen an
Johannes Panhofer, Pastoraltheologe und Psychotherapeut, Universität Innsbruck
Wie sehen Sie das Verhältnis von Seelsorge und Psychotherapie?
Panhofer: Seelsorge und Psychotherapie haben – wie manchmal bei sich nahestehenden Geschwistern – ein schwieriges Verhältnis zueinander. Wobei dieses sehr unausgewogen ist. War anfänglich ein ängstliches und abwehrendes Verhalten von Seiten der Kirche dominierend, so wurden nach dem Konzil die Ansätze verschiedener therapeutischer Schulen in großer Offenheit für die Seelsorge rezipiert. Umgekehrt kann man das nicht behaupten. Über Jahrzehnte wurden religiöse Fragen in Ausbildungslehrgängen für PsychotherapeutInnen tabuisiert oder waren negativ besetzt.
Die liebende Zuwendung als Grundlage für Heilung: Welche Unterschiede sehen Sie in diesem Punkt bei Seelsorge und Psychotherapie?
Panhofer: Während die Zuwendung in der Psychotherapie sich auf den/die Therapeuten/in beschränkt, so gründet die „therapeutische Beziehung“ in der Seelsorge letztlich in der Beziehung zu Gott, von dem man sich getragen, verstanden und geführt weiß. Dies wird im wertvollen Schatz der christlichen Rituale, Symbole, Bilder, Sakramente vergegenwärtigt. Sie erreichen den Menschen in einer seelischen Tiefe, wo der (staunende oder erschütterte) Mensch keine Worte mehr findet. Die Zuwendung wird konkret in der gläubigen Gemeinschaft, wo gemeinsam gefeiert, aber auch gegenseitige Hilfe erlebt wird.
Was finden Menschen in der Psychotherapie und wofür ist der Seelsorger zuständig?
Panhofer: In die Praxis kommen Menschen mit konkreten Beschwerden: mit starkem Suchtverhalten oder Angstzuständen, mit „alten“ Missbrauchsgeschichten und Beziehungsproblemen, mit Schlafstörungen und Depressionen. Bei all diesen Fällen wäre ein Seelsorger sowohl fachlich, als auch was die „Zuwendungsmöglichkeit“ (Zeit!) angeht, überfordert.
Der Seelsorger wird vor allem aufgesucht, wenn es um die letzten Fragen der menschlichen Existenz geht: um die Suche nach Sinn und menschlicher Erfüllung, um persönliche Schuld oder Schicksalsschläge, um eine schwere Krankheit, das unausweichliche Sterben und den Tod.