Besser, als wir glauben - aber wir wissen es nicht
Manfred Lütz im "Sonntags"-Gespräch
Der Psychotherapeut und Theologe über Kirchenskandale, Glaubensvergessenheit und verlorenes Selbstbewusstsein
„Der Skandal der Skandale“ – vom Titelbild her gefragt: Was ist der Sprengstoff Ihres Buches?
Lütz: Die Ergebnisse neuester Forschung zur Geschichte des Christentums sind wirklich spektakulär. Und das muss eine Gesellschaft wissen, die zwar über das christliche Menschenbild, das christliche Abendland und christliche Werte redet, wobei da oft unklar bleibt, was da christlich eigentlich heißen soll. Sogar viele Christen schämen sich sicherheitshalber für ihre eigene Geschichte, ohne sie zu kennen. Ich habe 5 Jahre Theologie studiert. Aber als ich vor einigen Jahren das Buch „Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“ des renommierten Kirchenhistorikers Arnold Angenendt las, war ich völlig überrascht, dass ich das meiste überhaupt nicht wusste. Um das einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, habe ich nun mit ihm zusammen eine ergänzte Kurzfassung davon gemacht, habe das dann von führenden Historikern lesen lassen, damit auch alles stimmt, aber auch meinen Friseur, damit es locker bleibt.
Wie sehen Sie es, wenn sich gerade Politiker des christlichen Glaubens besinnen?
Lütz: Bei Arnold Angenendt habe ich gelesen, dass Toleranz eine christliche Erfindung ist. Natürlich gibt es auch tolerante Buddhisten usw., aber „tolerantia“ hieß im klassischen Latein: Lasten tragen, Baumstämme zum Beispiel. Die Christen haben daraus gemacht: Menschen anderer Meinung ertragen. Und die Christen haben die Internationalität erfunden: In den Stammesreligionen vorher galt nur der eigene Stamm etwas, alle anderen Stämme waren minderwertig. Die Christen glaubten aber an einen Gott, der alle Völker erschaffen hat, die alle gleich vor Gott sind. Menschen, die das christliche Abendland hochleben lassen und gleichzeitig in Deutschland rufen „Deutschland, Deutschland über alles“, sind also schlicht nicht informiert. Das ist nicht christlich, das muss man wissen. Xenodochien z. B., Fremdenherbergen, haben die Christen im Mittelalter erfunden. Deswegen ist jeder Fremdenhass zutiefst unchristlich. Der Begriff „christlich“ ist eben nicht beliebig. Christlich ist, wie die Christen selber in 2000 Jahren das Christentum verstanden haben.
Einerseits verzichtet man auf Kreuze, um nicht intolerant zu sein, andererseits schaut man doch auch gerne despektierlich auf andere, um sich besser zu fühlen. Ist die rechte Balance verloren gegangen?
Lütz: Es ist das Kunststück einer wirklich guten Politik, dass sie einerseits schon klarmacht, dass Menschen Heimat haben und sich zu Hause fühlen wollen. Wir sind geprägt von der christlichen Tradition, das ist nicht zu verleugnen. Das Buch will erreichen, dass die Menschen dann aber auch wirklich wissen, was diese Tradition ist. Damit man nicht nur ein Kreuz an die Wand nagelt und meint, man hätte damit schon die christliche Tradition verteidigt. Das eine ist es, die eigene Tradition zu kennen und zu schätzen, das darf aber gerade aus christlicher Sicht nicht heißen, dass man andere Kulturen verachtet.
Wie war das bei der Indianermission?
Lütz: Ich wusste vor meiner Lektüre von Angenendt gar nicht, wie früh schon Kirchenleute der Ausbeutung und Versklavung von Indianern radikal widersprochen haben. Die Franziskaner, die Kolumbus begleiteten, haben ihn hierfür heftig attackiert! Die Dominikaner haben Spaniern, die Indianer versklavt haben, die Sakramente verweigert, sogar das christliche Begräbnis – das war damals unerhört! Gerade Kirchenleute waren es, die versucht haben, die Spanier daran zu hindern, die Indianer auszubeuten. Das ist nicht immer gelungen, und dass Christen dabei Schuld auf sich geladen haben – die Spanier waren ja Christen –, ist unbestritten. Aber wie viele Bedenken ihnen dabei entgegengeschlagen sind, anerkennen heute marxistische Forscher, die ich im Buch zitiere.
Wurde die Sklaverei nicht von der Aufklärung abgeschafft?
Lütz: Das habe ich auch gedacht. Aber dann habe ich lesen müssen, dass manche Aufklärer selber Sklaven hatten – George Washington und Thomas Jefferson z. B. Die moderne Sklaven-Forschung sagt, dass als einzige Religion das Christentum die Sklaverei abgeschafft habe. Auf so etwas könnten die Christen schon mal etwas stolz sein – aber sie wissen es gar nicht!
Man muss aber auch wissen, dass die Indianer nicht irgendeine friedliche Südseekultur waren. Die Inkas und Azteken kannten Menschenopfer, gerade neulich wurde da ein Massengrab mit Kinderleichen gefunden. Das Christentum hat die Menschenopfer beendet. Auch das muss man wissen – ohne die Unterdrückung und Ausbeutung der Indianer durch die Spanier zu leugnen.
Sie sagen auch, es war das Neue am Christentum, dass arme, alte, kranke Menschen, solche, die nicht mehr nützlich sind, auf einmal Aufmerksamkeit bekamen?
Lütz: Ja, das war völlig neu. Das Christentum hat das Mitleid erfunden. Die heidnischen Griechen und Römer verachteten solche Menschen. Die waren von den Göttern geschlagen, und mit denen beschäftigte man sich besser nicht, sonst wurde man auch von den Göttern geschlagen. Behinderte Kinder wurden im Gebirge ausgesetzt und mussten verhungern. Die Christen haben das Gegenteil getan: Sie haben Menschen in Not in den Mittelpunkt gestellt, denn sie glaubten, dass man gerade in diesen Menschen Gott selber begegne. Krankenhäuser, Obdachlosenheime, Waisenhäuser sind christliche Erfindungen. Aber wer weiß das noch?
Uns sind Skandale in Erinnerung geblieben, aber nicht die Errungenschaften?
Lütz: Es gibt wirkliche Skandale, die möchte ich auch nicht schönreden. Die Kreuzzüge zum Beispiel. Die frühen Christen waren Totalpazifisten. Deswegen trennten sie sich wahrscheinlich endgültig von der jüdischen Gemeinde, weil sie sich nicht am jüdischen Aufstand gegen die Römer im Jahre 66 beteiligten. Dass man unter dem Zeichen des Kreuzes Krieg führt, wäre für sie undenkbar gewesen – für uns heute auch wieder. Dass Ketzer getötet wurden, auch das ist ein Skandal und widerspricht der ausdrücklichen Weisung Jesu. Aber was ich nicht wusste: Dass die Christen im ersten Jahrtausend eben als einzige große Religion keine Ketzer getötet haben. Alle anderen Religionen haben das getan, auch das Judentum; Stephanus ist der erste Märtyrer. Es gab eine einzige Ketzer-Tötung im Jahr 385 in Trier. Priscillian wurde auf Drängen des Kaisers durch die Bischofssynode verurteilt, und der hl. Ambrosius von Mailand ist zu Fuß bis nach Trier gelaufen, um das zu verhindern. Auch der hl. Martin von Tours hat dagegen protestiert, konnten aber das Urteil nicht verhindern. Daraufhin hat der Papst alle Bischöfe, die daran beteiligt waren, exkommuniziert! Bis zum Jahr 1022 ist dann so etwas nicht mehr passiert.
Weshalb sind Sie Christ?
Lütz: Nicht, weil das glücklicher macht oder zu einem längeren Leben hilft, wie man manchmal liest. Jesus selbst wurde nur 33 Jahre alt ... Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, dass er der Weg, die Wahrheit und das Leben ist und dass er uns frei macht.
Interview: Georg Haab
Manfred Lütz, geb. 1954, Psychotherapeut und katholischer Theologe, leitet seit 1997 das Alexianer-Krankenhaus in Köln. Seine humorvolle Auseinandersetzung mit Psychoanalyse, Theologie und Kirche hat seine Bücher zu Bestsellern gemacht. Lütz ist verheiratet und Vater zweier Töchter.
Buchtipp: Manfred Lütz, Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums. Mit Beiträgen von Arnold Angenendt, Herder (2018), 288 Seiten, € 22,70