Die Corona-Pandemie im Spiegel der Theologie
Solidarisch in der Krise
Seitdem die Österreichische Bundesregierung zur Eindämmung der Ausbreitung der Corona-Pandemie drastische Ausgangsbeschränkungen erlassen, Schulen und Universitäten geschlossen und große Teile der Wirtschaft „herunter gefahren“ hat, wird nachdrücklich an die Solidarität jeder Staatsbürgerin und jedes Staatsbürgers appelliert. Ganz so einfach lässt sich dieses Prinzip des Zusammenlebens aber nicht einfordern. So begehren immer wieder (und nicht nur junge) Menschen gegen diese staatlich verordnete Rücksichtnahme auf. Selbst die Politik ist mit diesbezüglichen Äußerungen mittlerweile zurückhaltender und verweist stärker auf den Schutz des eigenen Lebens und verhängt bei Nichteinhaltung der Vorgaben hohe Strafen. Doch löst dies nicht die Spannung zwischen den Bedürfnissen der Einzelperson und den Erfordernissen für die Gesamtgesellschaft. So scheint der erste Impuls, dass in der Krise solidarisches Handeln gefordert ist, doch berechtigt. Da es sich bei Solidarität um ein Grundprinzip der katholischen Soziallehre handelt, möchte ich dazu einige Überlegungen und Hintergrundinformationen anbieten. Unterstützung hole ich mir dabei vom Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning (1890-1919) der sich damit im Werk „Baugesetze der Gesellschaft – Solidarität und Subsidiarität“ (die Zitate sind allesamt diesem Werk entnommen) eingehend befasst hat.
Der Begriff Solidarität
Der Begriff Solidarität kommt aus dem Lateinischen und meint das wechselseitige Eintreten des Einzelnen für eine Gruppe und der Gruppe für jedes einzelne Gruppenmitglied. Wirklich etabliert hat er sich im französischen Sprachraum und zwar im Rechtswesen für Haftungsfragen. So konnte im Schadensfall jeder Einzelne einer Gruppe für die Tilgung der Gesamtschuld herangezogen werden und zugleich mussten alle Mitglieder für das Vergehen des Einzelnen einstehen. Auf dieses Ineinander von dem Einzelnem und der Gemeinschaft weist auch Nell-Breuning hin, wobei er es aus dem Rechtskontext löst und um eine Dimension erweitert:
Was die einzelnen tun und lassen, wirkt – gleichviel, ob gewollt oder nicht – auch auf die Gemeinschaft. Und was die Gemeinschaft tut oder lässt, das wirkt – wiederum gleichviel ob bezweckt oder nicht – auf die einzelnen, die Glieder dieser Gemeinschaft sind.
Wurzel der Solidarität
Die Wurzel der Solidarität liegt für Oswald von Nell-Breuning unmittelbar im menschlichen Wesen. Zur Veranschaulichung bedient er sich eines Vergleichs aus der Natur:
Der Vogel ist nicht nur mit äußerlich ihm angehängten Flügeln ausgestattet, sondern sein ganzer körperlicher Bau ist darauf angelegt, sich von den Flügeln durch die Luft tragen zu lassen. (…) Ganz ebenso verhält es sich mit dem Menschen. (…) Der Mensch ist seiner Natur nach auf das Leben in Gemeinschaft angelegt.
Dies hat weitreichende Folgen. Denn der Mensch steht nun nicht vor der Wahl, ob er Teil einer Gemeinschaft sein möchte oder nicht. Vielmehr kann er sich nur entfalten, wenn er lebensfördernde Kontakte zu anderen Menschen vorfindet. Und dabei ist er selbst gefordert, sich so in die Gemeinschaft einzubringen, dass diese ihm diesen „Lebensnährboden“ auch weiterhin zur Verfügung stellt.
Grundlagen einer Gemeinschaft
Bevor sich das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft angeben lässt, gilt es den Begriff Gemeinschaft näher zu bestimmen.
Die Gemeinschaft, das sind die Einzelmenschen, die diese Gemeinschaft bilden oder aus denen diese Gemeinschaft besteht.
Wenn nun eine Gemeinschaft hundert Mitglieder umfasst, dann ist sie ganz grundsätzlich mehr als ein Einzelmensch. Es kommt aber noch etwas hinzu: Von einer Gemeinschaft spricht man erst, wenn sich zwischen mehreren Einzelmenschen so etwas wie eine Verbundenheit bildet. Erst dadurch wird ein Haufen von Menschen zu einer Gemeinschaft.
Der Einzelne und die Gemeinschaft
Bedeutet dies nun aber, dass der Einzelne seine Interessen und Vorstellungen der Gemeinschaft unterzuordnen hat? Wenn sich diese Wahrnehmung breit macht, ist das Zueinander dieser beiden Größen bereits in eine Schieflage geraten.
Die Gemeinschaft steht nicht irgendwo im Raume abseits von den einzelnen, (…) sondern besteht einzig und allein in den zur Einheit verbundenen Einzelwesen.
Da nun aber Einzelpersonen und Gemeinschaften in Entwicklung begriffen sind, kann es dennoch zu Differenzen kommen. So kann zum Beispiel die Gemeinschaft vom Einzelnen etwas fordern, das nicht legitim und daher abzulehnen ist. Dies ist der Fall, wenn Maßnahmen nicht das Wohl aller Menschen verfolgen. Aber auch umgekehrt gilt: Die Gemeinschaft kann zum Schutz aller Mitglieder oder zum Wohl einer besonderen Gruppe vom Einzelnen Verhaltensweisen einfordern, die dieser von sich aus nicht befolgen würde. Die Voraussetzung dafür ist aber wiederum, dass die getroffenen Maßnahmen das Wohl aller im Blick hat und den Grundlagen der Gemeinschaft entspricht.
Konflikte und Spannungen
Wie bereits deutlich wurde, kann eine Gemeinschaft vom Einzelnen solidarisches Verhalten einfordern. Zugleich ist aber Solidarität ein Prinzip, das nicht in jeder Situation denselben Verpflichtungscharakter aufweist. So wird die Solidarität mit der Familie größer sein als mit den Mitgliedern eines Gesangsvereins. Die oberste Instanz der Entscheidung ist dabei immer das menschliche Gewissen. Dabei begreift Nell-Breuning das Gewissen als unmittelbare Hinordnung auf Gott.
Der Mensch, jeder einzelne Mensch, ist auf Gott als sein nicht nur letztes, sondern auch unmittelbares Ziel hingeordnet. (…) Eben darum darf keine Gemeinschaft dem Menschen zumuten, gegen sein Gewissen zu handeln.
Entwicklungspotenzial einer solidarischen Gemeinschaft
Solidarisches Handeln bedeutet nicht zuerst Einordnung in ein größeres Ganzes durch persönliche Einschränkungen. Eine solidarische Gesellschaft bildet vielmehr einen Entwicklungsraum, in dem der Einzelne durch die Verbundenheit mit allen wachsen und reifen kann. Dies wiederum vertieft, so Nell-Breuning, den Zusammenhalt und die Humanität der Gemeinschaft. Dies gilt wohl besonders auch in Zeiten der Krise.
Die zunehmende geistige und sittliche Wertfülle des in die Gemeinschaft hineinwachsenden Menschen bereichert die Gemeinschaft, wie umgekehrt die Wertfülle der Gemeinschaft den Wachstumsprozess der Reifung und Entfaltung des einzelnen nicht bloß Richtung weist und Stütze bietet, sondern von ihrer Substanz ihn nährt. (…) Das Solidaritätsprinzip ist das Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft.