Die zweite Fastenzeit
Theologische Fragmente im Spiegel der Corona-Pandemie
Bereits seit dem 4. Jahrhundert galt die Zeit vor Weihnachten als eine intensive Vorbereitungs- und Bußzeit. Im 5. und 6. Jahrhundert umfasste sie – in Anlehnung an die österliche Bußzeit – 40 Tage bzw. 6 Sonntage. Der Beginn dieser Fastenzeit war der Tag nach dem Martinsfest. Daher rühren wohl auch der Brauch der Martinsgänse (diese konnten nicht bis nach Weihnachten konserviert werden und mussten direkt nach dem Schlachten verzehrt werden) und der Beginn des Faschings, der folgerichtig erst nach dem Weihnachtsfest sein ausgelassenes „Unwesen“ treibt. Anders als die Fastenzeit vor Ostern ist diese vorweihnachtliche Fastenzeit in Vergessenheit geraten. Allein die liturgische Farbe „violett“ und der Verzicht auf das „Gloria“ erinnern in der Adventszeit noch daran. Unser Lebensgefühl aber bleibt davon weitgehend unberührt. Im aktuellen Teil-Lockdown und im Blick auf die angekündigten massiven Verschärfungen kommt bei mir jedoch zunehmend so etwas wie eine fastenzeitliche Stimmung auf. Daher möchte ich der Frage nachgehen, welche Haltungen diese Zeit prägen könnten. Dabei orientiere ich mich an den biblischen Texten der letzten Sonntage des Kirchenjahres.
Wachsam sein
Dieser Ruf schallt unüberhörbar durch diese Zeit. Auch wir sind in diesen Tagen angehalten wachsam zu sein, Kontakte zu reduzieren und Abstand zu halten. Der biblische Ruf zur Wachsamkeit meint jedoch nicht ein angespanntes Warten auf ein negatives Ereignis, vor dem man sich schützen muss. Der Grund dieser Wachsamkeit ist vielmehr positiv, denn es geht um nicht weniger als um das Kommen Christi und mit diesem ist ständig zu rechnen:
„Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“ (Mt 25,13).
Bereits zu biblischer Zeit wurde jedoch deutlich: Dieses Kommen Christi ist nicht nur in naher oder ferner Zukunft zu erwarten, es ereignet sich ständig und zwar mitten im Alltag. Woran wir es erkennen? Auch darüber erteilt der Evangelist Matthäus Auskunft, wenn Jesus die Bewertungskriterien für das Gericht wie folgt festlegt: ich war hungrig, durstig, fremd, nackt, krank und im Gefängnis und ihr habt mir zu essen und zu trinken gegeben, habt mich aufgenommen, mich bekleidet und mich besucht (Mt 25,31-46). Wachsam sein unter Corona-Vorzeichen bedeutet für mich: mit mir und meinen Nächsten achtsam umgehen und dabei Sorgen um die Gesundheit ernstnehmen und – im Rahmen des Möglichen – Nähe und Zuwendung schenken.
Das Richtige wählen
Pro Tag treffen wir rund 20.000 Entscheidungen und dies meist innerhalb von Sekundenbruchteilen, so der Münchner Hirnforscher Ernst Pöppel. Den Großteil bewältigen wir mit Erfahrung und Routine. Einzelne Entscheidungen wiederum fordern unsere ganze Aufmerksamkeit. In Zeiten der Corona-Pandemie fallen diese Entscheidungen noch schwerer, denn weitreichende Folgen kann beinahe jede davon haben und auf Erfahrungswerte können wir nicht zurückgreifen. In den biblischen Texten dieser Tage geht es auch um Entscheidungen, genauer um eine Entscheidung. Von dieser hängt alles andere ab: die Entscheidung für Jesus Christus. Die Bedeutung dieser Wahl hat meines Erachtens niemand so klar erkannt und ins Zentrum seines geistlichen Weges gerückt wie Ignatius von Loyola. Darauf weist er gleich zu Beginn seines Exerzitienbuches im grundlegenden Text „Prinzip und Fundament“ hin. Der Jesuit David Fleming überträgt den Kerngedanken dieses Textes in unsere Zeit:
Ich möchte und wähle, was eher dahin führt, dass Gott sein Leben in mir vertiefen kann.
Diese Wahl wird nicht einmal getroffen, sondern ist ständig zu erringen. Sie ist aber nicht wie ein fernes Ziel, dem es nachzujagen gilt. Vielmehr bewirkt bereits die Wahl selbst inneren Frieden, Orientierung und Kraft. Wer für sich diese Wahl getroffen hat, wird häufig als jemand erlebt, der oder die in sich ruht und dabei Sicherheit und Gelassenheit ausstrahlt.
Vom Ende her leben
Schließen möchte ich mit einem dritten und letzten Gedanken zum vorweihnachtlichen Fasten. In diesen Wochen werden uns im Gottesdienst immer wieder biblische Bilder von der Vollendung angeboten. Dabei begegnet am öftesten die Vorstellung eines himmlischen Hochzeitsmahls (Mt 22,1-10). Diese Verheißung ist wiederum nicht nur ein Ausblick in die Zukunft, sondern beinhaltet einen Appell für die Gegenwart: Verstehe dein ganzes Leben vom Ende her. Verliere dein Lebensziel, das was dich ausmacht, nicht aus dem Blick. Besonders in diesen Tagen, in denen vieles ungewiss ist und uns stärker aus sonst Sorgen, Ängste aber auch Wut und Unverständnis in Beschlag nehmen, fällt dies nicht leicht. In solchen Krisen ist so etwas wie ein sicherer Ort, der Geborgenheit schenkt und aufatmen lässt, besonders wichtig. Dieser Ort kann dort sein, wo ich mich wohlfühle, wo ich etwas mache, das mir tut gut oder ich mit Menschen im Kontakt bin, die mir nahe stehen. Wer immer wieder so einen Ort aufsucht, vermag eher die Sorgen der Gegenwart in einem größeren Horizont zu betrachten und einzuordnen und die zentralen Lebensziele weiter zu verfolgen. Helfen kann hier die Zusage Jesu, mit der Matthäus sein Evangelium beschließt und der Fridolin Stier in seiner Übersetzung ein besonderes Gewicht verleiht:
„Ich bin mit euch durch das All der Tage bis zum Voll-Ende der Weltzeit.“ (Mt 28,20)
In einer Tagebuchnotiz konkretisiert Fridolin Stier diese Worte des Evangeliums, indem er sehr persönlich und tastend dieses Da-sein Gottes ins Wort bringt und so vielleicht auch uns heute einen Weg durch diese schwierige Zeit weist: „Ob Tag oder Nacht, Finsternis oder Helle – dieses Dasein blieb mir und wurde wie jemand, der mit mir mitgeht.“