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Institut für kirchliche Ämter und Dienste

Die Logik des geteilten Mantels

Theologische Fragmente im Spiegel der Corona-Pandemie

Gedanken zum Martinsfest 2020 (J. Kapeller)
Gedanken zum Martinsfest 2020 (J. Kapeller)

In den letzten Jahren erfreut sich das Martinsfest zunehmender Beliebtheit und zwar nicht nur bei Kindern. An vielen Orten werden am 11. November von Kindergartenkindern Laternenumzüge abgehalten und Martinsspiele aufgeführt. Diese Feiern münden meist in Begegnungen am Feuer mit Maroni und Tee bzw. Glühwein. Zudem suchen in dieser Zeit viele Menschen Gasthäuser auf, um in geselliger Runde ein Martini-Gansl und ein Glas Rotwein zu genießen. All dies ist heuer nicht möglich. Wir sollten das Martinsfest aber dennoch begehen. Hier meine Begründung. Vorher aber noch ein kurzer Blick auf das Leben des Heiligen Martin.

Die Legende vom Heiligen Martin

Martin – so berichtet sein Biograf Suplicius Severus – wurde um 315/316 in Szombathely in Ungarn geboren und wuchs als Sohn eines römischen Offiziers in Pavia in Italien auf. Mit 18 Jahren ließ er sich taufen. An einem Wintertag traf Martin vor den Stadttoren von Amiens einen Bettler, der nackt war und von niemandem ein Almosen erhalten hatte. Sogleich zerteilte Martin seinen Mantel und gab die eine Hälfte dem Bettler. Später quittierte er seinen Soldatendienst und ließ sich als Einsiedler in der Nähe von Tours nieder. Rasch schlossen sich ihm andere Männer an. Sein heiligmäßiges Leben beeindruckte die Menschen der Gegend. Nach dem Tod des Bischofs forderten sie, dass Martin zum Bischof geweiht würde. Um die große Bescheidenheit Martins zu betonen wurde hier später die Legende mit den Gänsen eingefügt, die durch ihr Schnattern Martin, der sich versteckt hielt, verrieten. Als Bischof verband Martin das kontemplative Leben mit dem Apostolat und wurde zum wichtigsten Missionar Galliens. Er starb im Jahr 397. Bis heute wird er in vielen Ländern Europas verehrt.

Der geteilte Mantel – ökonomisch betrachtet

Bei einem Symposium – so wurde mir erzählt – kam ein Bankmanager auf den Hl. Martin zu sprechen. Dabei meinte er sinngemäß: „Martin mag ja ein guter Soldat und überzeugter Christ gewesen sein, aber das Teilen seines Mantels war eine erdenklich schlechte Idee. Viel besser wäre es gewesen, ihn zu verkaufen. Denn der geteilte Mantel wärmte wohl weder den Bettler noch ihn selbst. Zudem hat er damit ein wertvolles Produkt zerstört. Hätte Martin den Mantel einem Händler verkauft, dann hätte er dem Bettler eine Decke und für sich selbst einen wärmenden Umhang kaufen können. Der Händler wiederum hätte den Mantel weiterverkaufen können. Somit hätte der Mantel auch weiterhin einen Menschen wärmen können und vom Erlös hätte der Händler für seine Familie Nahrung und Heizmaterial erstehen können.“ Soweit die Logik der Nächstenliebe aus der Perspektive eines Ökonomen.

Der geteilte Mantel – biblisch betrachtet

Ich möchte dieser ökonomischen Logik die Logik der Bibel gegenüberstellen und mich dabei der Erzählung von der Brotvermehrung in Mt 14,13-21 bedienen. Das Geschehen ist rasch erzählt: Nach einem Tag an dem Jesus viele Menschen geheilt hatte, forderte er seine Jünger auf, sie nicht hungrig nach Hause zu schicken, sondern ihnen etwas zu essen zu geben. Die Jünger hatten jedoch nur fünf Brote zu zwei Fische. Das konnte für fünftausend Menschen nicht reichen. Jesus aber bat die Menschen sich zu setzen, blickte zum Himmel, sprach den Lobpreis, brach die Brote, gab sie den Jüngern und diese gaben sie den Leuten. Und – so lesen wir bei Matthäus – „alle aßen und wurden satt.“ (Mt 14,20). Ja, mehr noch, zwölf Körbe mit Brotstücken blieben übrig. Für Joachim Gnilka vermittelt diese Bibelstelle die Haltung: Wenn wir teilen, ist für alle mehr als genug da. Und weiter: Wenn das Teilen wirklich zu einer „Hingabe des Eigenen“ wird, kommt es zur Begegnung und wächst daraus Gemeinschaft. Damit sind wir wieder bei Martin und seinem geteilten Mantel angelangt. Wenn er diesen dem Bettler um die Schultern legt, macht er deutlich:

Du bist mir wichtig, ich lasse mich auf dich ein und teile dein Lebensgeschick.

So eine Begegnung reagiert nicht auf einen Mangel, sondern nimmt den Menschen in seiner Würde wahr und kann so über die Wärme hinaus Mut und Zutrauen in eine bessere Zukunft stiften. Der Wert dieser Begegnung, so meine ich, übertrifft alle ökonomischen Bewertungen.

Teilen wir heuer einen Mantel!

Die Corona-Pandemie stellt viele Menschen durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder durch Umsatzentgang vor große, teils existenzbedrohende finanzielle Probleme. Hier braucht es staatliche Unterstützung und gesellschaftliche Solidarität. In dieser Situation kann uns der Hl. Martin auf etwas Weiteres aufmerksam machen: Wir brauchen auch aufmerksame Begegnungen, ein wohlwollendes Miteinander und Verständnis füreinander. Deshalb sollten wir besonders heuer das Martinsfest begehen. Wir können zwar nicht in gewohnter Weise feiern, aber mit den Menschen, die unsere Hilfe, Zeit und Aufmerksamkeit brauchen, unseren „Mantel teilen“.