Die Corona-Pandemie im Spiegel der Theologie
Berühren verboten!
Vermutlich gibt es im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie neben dem „Lock-down“ der Wirtschaft nichts was sich stärker im kollektiven Bewusstsein festsetzen wird wie das soziale Abstandhalten. Häufig spricht man von einem gebotenen „Social Distancing“ oder von einem Berührungsverbot mit Menschen, mit denen man nicht zusammenlebt. Bei allem Verständnis für diese notwendige Maßnahme, wird in letzter Zeit verstärkt auf Probleme hingewiesen, die so eine Form des sozialen Umgangs oder besser Nicht-Umgangs mit sich bringen kann. Ich möchte mich nun diesem ganzen Themenbereich theologisch nähern. Unterstützung hole ich mir dabei von Alex Stock, der sich in seiner Poetischen Dogmatik auch damit beschäftigt und es an den Auferstehungsbegegnungen von Maria von Magdala und dem Apostel Thomas festmacht.
Noli me tangere – Berühre mich nicht
Für Alex Stock ist die Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena nach Joh 20,11-18 eine bewegte Geschichte, voller Spannung und Emotion. Dies erschließt sich, wenn man darin auch die entsprechenden innerbiblischen Bezüge freilegt. So finden sich bei dieser Suche der Jüngerin Maria nach ihrem Herrn und Meister Anklänge an das alttestamentliche Buch Hohelied 3,3: „Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebte?“ Und Maria findet Jesus – jedoch nicht im dunklen Grab, sondern als Auferstandenen im Paradiesgarten. Als sie dabei schrittweise vom Wahrnehmen zum Erkennen durchdringt, kommt es zur Begegnung, ja zur Berührung. Der biblische Text lässt keinen Zweifel. Jesus fordert Maria nur auf, sie nicht festzuhalten, damit sie ihren Auftrag erfüllen kann, Zeugin der Auferstehung und damit Apostelin der Apostel zu werden. Erst in der Vulgata wird aus dem Griechischen „Halte mich nicht fest“ das „Noli me tangere“ (Berühre mich nicht!). Dieser "Übersetzungsfehler" legt nun jedoch eine weitere Dimension der biblischen Begegnung des Menschen mit Gott frei.
Das Heilige ist unbegreiflich
Der Auferstandene entzieht sich Maria mit dem Argument, dass er noch zum Vater hinaufgehen das heißt in die Sphäre des Göttlichen zurückkehren muss. Die biblische Begegnung mit dem Heiligen ist immer eine Grenzerfahrung, ja gefährlich. So lässt der Herr Mose zwar seine Güte erfahren, sein Angesicht jedoch kann er nicht schauen: „Du kannst mein Angesicht nicht schauen; denn kein Mensch kann mich schauen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20). Diese Unmöglichkeit Gott zu schauen wird erweitert um ein Berührungsverbot all der Orte und Gegenstände, die von Gottes Herrlichkeit erfüllt waren. Sie sind dem Alltag entzogen und dürfen nur von bestimmten Menschen und nur zu bestimmten Zeiten betreten bzw. verwendet werden.
Berührungsverbot als Schutz
Um die Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen zu unterbinden, kennt das Alte Testament eine Reihe von Reinigungsgeboten und Berührungsverboten. So wurden Kranke abgesondert. Wer sie berührt hatte, musste sich zunächst einem Reinigungsvorgang unterziehen und sich für eine gewisse Zeit isolieren. Ebenso galt die Berührung von Toten als gefährlich. Körperliche Ausscheidungen, die im Zusammenhang mit der Weitergabe von Leben standen, nämlich Same (bei Geschlechtsakt) und Blut (bei Menstruation) waren mit Tabus versehen und führten ebenfalls zu kultischer Unreinheit. Menschen, bei denen es zu körperlichen Abnormitäten kam, mussten sich von einem Priester „untersuchen“ lassen und wurden isoliert: „Solange das Anzeichen an ihm besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten.“ (Lev 13,46)
Der Mensch ist unantastbar
Die Bibel kennt jedoch nicht nur einen Schutz vor der Ansteckung mit einer Krankheit, sondern auch vor Gewalt. So genossen Fremde einen besonderen Schutz vor Anfeindungen und Übergriffen und Arme durften nicht abhängig gemacht und ausgenutzt werden. Begründet wird dies mit der Erfahrung der Knechtschaft in Ägypten und der Befreiung durch den Herrn. In diesen Kreis der besonders Schutzbedürftigen würden wir heute auch Kinder, alte Menschen und Menschen mit Behinderungen aufnehmen.
Tangere me – Berühre mich
Nun wechseln wir vom Berührungsverbot zum Berührungsgebot – von der Aufforderung an Maria von Magdala zur Erfahrung des Apostels Thomas. Denn für Alex Stock ist die Thomaserzählung (Joh 20,24-29) eine Gegengeschichte, die in die Aufforderung des Auferstanden mündet, er soll seine Hand in die Seite des Auferstandenen legen. Thomas möchte nicht nur verstehen, sondern begreifen. Damit wird deutlich: Gott entschwindet als Auferstandener nicht in eine geistige Sphäre. Er bleibt präsent und auf der Seite der Menschen. Die Wundmale, die Thomas berühren soll, „verbinden“ den gekreuzigten Auferstandenen mit dem Leid der Menschen.
Gott berührt
Der Gott Israels ist keiner, der sich zurückzieht und das Weltgeschehen aus sicherer Distanz beobachtet. Er ist ein Gott, der sich einlässt und einbringt und der sein Volk auf dessen Weg begleitet. Dazu bedient er sich Menschen, die er als Richter, Könige oder Propheten in den Dienst nimmt oder er schickt einen Boten, wie bei Elija, der in seiner Angst und Verzweiflung in die Wüste flieht und nur mehr den Tod herbeisehnt: „Doch ein Engel rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss!“ (1 Kön 19,5)
Heilsame Berührungen
Jesus wendet sich nicht nur den Menschen zu, sondern er lässt sich berühren und er berührt. Besonders in den Heilungserzählungen berührt er die Körperstellen, die der Heilung bedürfen. Aber er lässt sich auch selbst berühren, wie zum Beispiel vom Tod seines Freundes Lazarus, oder von der Sünderin, die ihm mit ihren Tränen die Füße wäscht. Jesu Berührungen drücken Beziehung aus und zielen auf Heilung und Befreiung. Sie bringen den oder die andere jedoch nicht in Bedrängnis. Jesus respektiert sein Gegenüber in seiner unveräußerlichen Würde. Er verletzt keine Grenzen. Die Initiative geht von der Person aus, die sich eine heilsame Zuwendung wünscht. Teilweise vergewissert er sich mit der Frage: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Mk 11,51)
Berührt
Nach überstandener Corona-Pandemie kann das Beispiel Jesu als Maßstab dienen: sich anrühren lassen vom Schicksal anderer und dabei offen sein für heilsame Begegnungen. Und: Wissen um die eigene Verletzlichkeit, um die Verletzlichkeit des anderen wahrnehmen und achten zu können. Darin dürfen wir – wie Alex Stock im Blick auf die Erfahrung des Thomas meint – erfahren, wie wichtig für Christen die unmittelbare Zuwendung und jede aufmerksame Tat ist:
Die Taten sind der lebendige Leib des Glaubens, den nun die Hörer der Botschaft sehen und anrühren können.