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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Reformen brauchen Zeit - und Unterstützung

Der ägyptische Jesuit zur Lage in seiner Heimat, zur Entwicklung der Kirche und sein Vertrauen auf Gottes Heilswirken

Ein Gespräch mit Georg Haab.

Der ägyptische Jesuit Henry Boulad im SONNTAG-Gespräch zur Lage in seiner Heimat, zur Entwicklung der Kirche und sein Vertrauen auf Gottes Heilswirken. (© Foto: Foto: Georg Haab / SONNTAG)
Der ägyptische Jesuit Henry Boulad im SONNTAG-Gespräch zur Lage in seiner Heimat, zur Entwicklung der Kirche und sein Vertrauen auf Gottes Heilswirken. (© Foto: Foto: Georg Haab / SONNTAG)
 (© Foto: Haab)
(© Foto: Haab)

Die Situation in Ihrem Heimatland ist schwer zu verstehen. Unsere Medien beurteilen die Situation ganz anders als die Menschen in Ägypten. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Boulad: Ja, von außen ist die Situation sicher schwer zu beurteilen. Aber wenn man im Land wohnt ... Mit der sogenannten demokratischen Wahl Mursis hat sich vieles verändert: Es ist, als ob Sie Kaviar gekauft haben, besten norwegischen Kaviar – so sagt das Etikett. Und beim Aufmachen zu Hause merken Sie, dass die Ware verdorben ist und stinkt. Die Muslim-Brüder haben die Wahl gewonnen, weil sie vorher schön getan haben. Nach der Wahl haben sie ihr wahres Gesicht gezeigt und sofort begonnen, das Land zu islamisieren.

 

Was meinen Sie mit „islamisieren“?

Boulad: Der Alltag hat sich verändert: Ich habe in Kairo immer die Messe um 6 Uhr gefeiert – jetzt kann ich es nicht mehr, weil die Stimme des Muezzin vor der Kirche meine Stimme in der Kirche übertönt. Neulich in der Straßenbahn begann mein Sitznachbar mit lauter Stimme den Koran zu lesen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass mich das störe; nicht der Koran, sondern die Lautstärke. Aber er unterstellte mir sofort, dass ich etwas gegen den Koran habe – damit ist jede Diskussion beendet. Ihre Mehrheit im Parlament haben Muslim-Brüder ausgenützt, um eine Verfassung durchzupeitschen, die sich an der Scharia orientiert. Seit der Machtübernahme Mursis wurden im Land 80 Kirchen niedergebrannt, die Christen leiden unter Repressalien. Im ländlichen Bereich, im oberen Ägypten, ist es besonders schlimm. Seit 2011 sind 100.000 Christen ausgewandert.

 

Aber die Regierung wurde doch demokratisch gewählt?

Boulad: Wie lange brauchte Europa, um eine reife Demokratie zu entwickeln? Sehen Sie, in Ägypten wohnen 10 Prozent Christen und 90 Prozent Moslems, und mit den meisten gibt es ein sehr gutes Auskommen. Die Muslim-Brüder sind innerhalb der Moslems eine Minderheit, aber sie sind sehr gut organisiert und haben begonnen, als demokratisch gewählte Regierung die Demokratie abzuschaffen. Sehr viele Menschen haben sich deshalb von ihnen abgewendet, sie haben keine Mehrheit. Was jetzt stattgefunden hat, ist eine Revolution des Volkes, die vom Militär unterstützt wurde.

Wir müssen Gott helfen, die Welt in seinem Sinn zu gestalten.

Wie beurteilen Sie die Lage in den anderen arabischen Ländern?

Boulad: Die Muslim-Bruderschaft ist 1928 in Ägypten entstanden, aber sie ist weltweit organisiert. Sie vertreten einen politischen Islam und bauen auf die radikalen Verse des Koran: Das sind die, die die Herrschaft des Islam über die Ungläubigen anzielen. Es gibt auch die anderen Passagen des Koran, die offen und friedfertig gegenüber Andersgläubigen sind. Unter Kalifen wie Al-Mamun, die dieser Islam-Auslegung nahestanden, erlebte die arabische Kultur im 9. Jahrhundert eine Blütezeit. Sie unterlagen aber der rigorosen Islam-Auslegung des Ibn-Hanbal, die sich im 13. Jahrhundert etablierte, und auf die sich auch die Muslim-Brüder berufen. Dieser rigorose Islam beendete die geistig-kulturelle Blüte; bis heute hat unter seiner Herrschaft keine große kulturelle oder wissenschaftliche Entwicklung stattgefunden. Ergebnis dessen ist ein Minderwertigkeitsgefühl der islamischen Welt gegenüber dem Westen einerseits und ein Aufbegehren andererseits, das auch Gewaltbereitschaft beinhaltet.

 

In Ihren Vorträgen sprechen Sie diesbezüglich von einer ernsthaften Gefahr, die unterschätzt wird.

Boulad: Der politische Islam versucht zu arabisieren und islamisieren, offen in Ägypten, versteckter in der Türkei, aber ebenfalls in Teilen der syrischen Opposition. In Afghanistan wurde sichtbar, was geschieht, wenn der Westen aus geopolitischen und anderen Gründen eine islamistische Opposition mit Waffen beliefert. Der politische Islam versucht übrigens stark, auch in der westlichen Welt Fuß zu fassen: Leider sind zurzeit die extrem rechten Parteien die Einzigen, die vor der Islamisierung warnen; aber sie sind unglaubwürdig, weil sie es nicht uneigennützig tun. Dabei ist die Islamisierung eine reelle Gefahr. Die Medien, auch die Regierungen unterschätzen das, aus Unwissenheit, aus Bequemlichkeit, aus welchen Interessen auch immer. Wir müssen aufwachen: Es darf doch nicht sein, dass jede Kritik am Islam als rassistisch und islamophob abgetan wird, die katholische Kirche aber regelmäßig in den Medien angegriffen wird. Das ist falsch verstandene Religionsfreiheit, das ist Messen mit ungleichem Maß. Dort sind Moslems, die ihren Glauben radikal befolgen, und hier Menschen, die in ihrem Glauben müde und bequem geworden sind oder keinen Glauben mehr haben.

 

Wo steht die ägyptische Kirche?

Boulad: Die Kirche steht auf der Seite der Armen. Dazu ist es wichtig, Ausgleich zu schaffen. Derzeit werden Christen und Frauen unterdrückt – dabei sind es gerade die Frauen, die oft eine entscheidende Rolle in der Revolution spielten –, und es wird versucht, alle zu Arabern und zu Moslems zu machen.  Aber wir sind nicht alle Moslems und Araber, sondern Ägypter! Die Kirche setzt sich für eine Verfassung ein, die niemanden ausschließt und allen Ägyptern gleiche Rechte zugesteht.

 

Papst Franziskus misst auch dem Gebet große Bedeutung zu.

Boulad: Das Gebet für den Weltfrieden ist eine außergewöhnliche Kraft, die das Herz des Menschen verändert. Ja, es öffnet die Türen für den Geist: Und in Wirklichkeit ist es der Geist, der die Welt entscheidend verändert. Die griechische Sprache unterscheidet zwei Arten von Zeit: den „chronos“, die messbare, ablaufende Zeit, und den „kairós“, den richtigen Zeitpunkt, den Moment eines Entwicklungsschrittes, der quer zum „chronos“ verläuft. Solche Zeiten waren z. B. Renaissance und die Kopernikanische Wende, aber auch das Zweite Vatikanische Konzil, der Arabische Frühling. Auf eine Phase der Stabilität folgt ein Chaos, in dem sich die Kräfte neu ordnen, darauf folgt wieder eine Zeit der Ordnung. Das Ganze ist keine Bewegung im Kreis, sondern führt jeweils auf eine höhere Ebene. Entwicklung geschieht spiralförmig. In Ägypten und den arabischen Ländern erleben wir jetzt eine Zeit des Chaos. Wir beten und setzen uns ein, dass sie zu einer Weiterentwicklung im Geist wird.

 

Weiterentwicklung im Geist: Hoffen Sie noch, dass auch die Kirche sich weiterentwickelt? 2007 haben Sie an Papst Benedikt einen flammenden Brief geschrieben ...

Boulad: Die westliche Kirche ist stark darin, das Evangelium zu predigen. Aber lebt sie es auch? Ich glaube, sie lebt ein wenig am Evangelium vorbei und hat dadurch Glaubwürdigkeit verloren. Glieder der Kirche, die sich für die Schwachen und Armen einsetzen, sind visionär, prophetisch: Sie leben das Evangelium. In diesem Sinn haben wir in Franziskus einen Papst, der die Kirche wirklich verändert. Es ist fast so, als ob mein Brief von damals doch auf fruchtbaren Boden gefallen sei.

 

Was wünschen Sie sich von der Kirche in Europa?

Boulad: Ich wünsche mir, dass die Kirche ihre mystische Bedeutung als Leib mit verschiedenen Gliedern wieder entdeckt, die in Respekt miteinander verbunden sind – vor allem gegenüber den Ärmsten, wie es das Evangelium sagt. Dass die Kirche ihre Sendung, ihren Auftrag wieder erkennt, dass sie aus der Lethargie gegenüber dem eigenen Glauben aufwacht. Wir müssen uns aus dem roten Fauteuil erheben, die Not im eigenen Land und überall sehen und Gott helfen, die Welt in seinem Sinn zu gestalten.

 

Zur Person

Henri Boulad SJ, geb. 1931 in Alexandria, studierte Theologie im Libanon, Philosophie in Frankreich und Psychologie in den USA. Er war u. a. Theologieprofessor, Caritas-Präsident für den Mittleren Orient und Nordafrika, durch seine Vorträge und Bücher ist er auch in Europa sehr bekannt.