Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Zimt-Enten, Kerzen und Sehnsüchte

Christine Preißmann ist Ärztin und Psychotherapeutin - und Autistin (Asperger-Syndrom).

 (© Foto: privat)
(© Foto: privat)

Ich liebe den Advent und wünsche ihn mir als eine stille, besinnliche Zeit. Das ist mein spezielles Interesse, dem ich mich immer wieder mit autismuseigener Ausschließlichkeit hingebe.

Zum Keksebacken brauche ich nicht viele Ausstecher. Ich möchte ausschließlich Sterne backen, denn die anderen Formen passen für mich nicht zu Weihnachten. Ich erinnere mich sehr gut an mein Geschrei in der Kindheit, als mein Bruder ganz plötzlich und ohne Vorwarnung eine „Zimt-Ente“ ausstach. Ich konnte mich kaum beruhigen, es gehörte sich nun einmal nicht, aus dem Zimtstern-Teig eine Entenfigur zu fertigen. Mein Bruder dagegen wusste gar nicht, was los war. Solche Situationen tun mir im Nachhinein immer sehr leid, aber unvorhergesehene Änderungen sind sehr schwer für mich. Ich bekomme dann Angst, weil sie mir Sicherheit nehmen.

Der schönste Tag im Jahr ist der Heilige Abend, der meist ruhig und friedlich verläuft, so wie ich es gern habe. Ungefähr um 17.00 Uhr beginnt unsere Weihnachtsfeier im Familienkreis, wobei ich Wert lege auf die exakte Uhrzeit, meine Eltern jedoch auf das Wort „ungefähr“. Dadurch kommt es erwartungsgemäß immer wieder einmal zu kleineren Auseinandersetzungen, wenn es trotz bestem Willen ein paar Minuten später wird als vorgesehen.

Am Abend findet dann die feierliche Christmette in der Kirche statt. Ich finde es manchmal schwierig, dass ich dort so viele Leute sehe, die ich von früher kenne. Sie kommen mit ihren Partnern in die Kirche, manche auch mit ihren Kindern. Dann realisiere ich erneut, dass alle Leute eine Familie zu haben scheinen, und fühle mich als Außenseiter. Ich versuche, mich durch die schönen Lieder und die Lichter, die Krippe und den Weihnachtsbaum abzulenken, was mir auch ganz gut gelingt. Aber dennoch ist es an diesem Tag besonders schwierig für mich. All die schönen Dinge, die gemeinsamen Erlebnisse mit meinen Eltern an Weihnachten werde ich nie mit einem eigenen Kind teilen können.
Mein Interesse für die Weihnachtszeit beschränkt sich nicht auf die Wochen rund um das Fest, sondern spielt für mich das ganze Jahr über eine Rolle.

Früher hielt ich mich daran, wenn man mir sagte, ich könne meine geliebten Weihnachtslieder nicht im Sommer hören, das passe nicht. Aber inzwischen weiß ich, dass merkwürdig erscheinende Eigenarten manchmal als Facetten der menschlichen Vielfalt akzeptiert werden können. So vieles passt nicht, aber das ist mir inzwischen ziemlich egal. Es tut mir gut und entspannt mich, ohne Rücksicht auf die Jahreszeit nach einem anstrengenden Arbeitstag auf dem Nachhauseweg schöne Musik anzuhören. Schließlich störe und gefährde ich dadurch niemanden. Aber ich habe doch mittlerweile gelernt, dass es sinnvoller ist, außerhalb der Weihnachtszeit an einer roten Ampel möglichst das Fenster zu schließen, während ich bei „Stille Nacht“ laut mitsinge.

Wenn ich unterwegs bin, gehe ich gern in eine schöne Kirche. Meistens zünde ich dabei auch eine Kerze an. Ich freue mich an dem Licht und vor allem daran, dass sie nicht abseits sein muss, sondern ganz selbstverständlich unter den anderen Kerzen stehen darf, dass sie genauso ist wie die anderen Kerzen und dazugehört.

Mein Leben ist schwierig, aber gleichzeitig auch wunderschön. Ich versuche, jeden Tag für mich und für die Menschen, die ich gern habe, zu einem Weihnachtstag zu machen.

Christine Preißmann


Die Autorin
Christine Preißmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und selbst vom Autismus (Asperger-Syndrom) betroffen. Durch Vorträge, Lesungen und Publikationen möchte sie über den Autismus in all seinen Facetten informieren und zu einem besseren Verständnis für die betroffenen Menschen beitragen.
Ausgewählte Publikationen:

  • Asperger – Leben in zwei Welten. Betroffene berichten: Das hilft mir in Schule, Beruf, Partnerschaft und Alltag. Trias-Verlag 2012, € 19,99.
  • … und dass jeden Tag Weihnachten wär´. Wünsche und Gedanken einer jungen Frau mit Asperger-Syndrom. Weidner-Verlag 2005, € 15,50.